«Where ist the beef?», ein Spruch, den wohl jeder Journalist und jede Journalistin in einer Redaktionssitzung schon einmal gehört hat. Wo ist das Spannende? Wo ist die Relevanz? Wo ist das Fleisch!
Bei der juristischen Aufarbeitung der Ära des früheren Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz kommen Karnivoren voll auf ihre Rechnung. Der Prozess gegen Vincenz bietet tonnenweise Fleisch. Keine dünnen Schweinsplätzli, sondern saftige Steaks. Das erste Drittel des 365 Seiten starken Anklageschrift handelt von Spesenausschweifungen des Ex-Raiffeisen-Chefs und seines Mitstreiters Beat Stocker. Fast genüsslich wird die «Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu» ausgeweidet.
Der Wirtschaftsprozess stellt wohl alles in den Schatten, was das Schweizer Justizsystem bis jetzt gesehen hat. Ab Tag 1 seiner Untersuchungshaft im Februar 2018 stand der Beschuldigte im Auge eines Mediensturms. Wohl noch nie in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte war eine Person einer solchen medialen Vorverurteilung ausgesetzt. Die Anklageschrift kursierte lange vor Prozessbeginn in den Medien. Jede Newsplattform konnte das Privatleben des Bankers ausbreiten – mit all den brisanten Details.
Dass Strafverfahren immer mehr in der Öffentlichkeit aufgetragen werden, betrachtete die ehemalige Richterin Marianne Heer als ein «hochproblematisches Phänomen». «Es ist schon unschön, dass die Parteien ihre Argumente vor laufender Kamera präsentieren. Noch schlimmer ist es, dass dies noch durch selbsternannte Experten ohne Aktenkenntnisse kommentiert wird.»
Dass sich die Justiz der Öffentlichkeit stellen muss, sei eine wichtige Errungenschaft in einem modernen Rechtsstaat. Dies garantiere die Kontrolle und erteile der Geheimjustiz eine Absage. «Aber inzwischen wird dies im Fall von Beschuldigten, die einem starken öffentlichen Interesse ausgesetzt sind, ad absurdum geführt», sagt Heer, die an den Universitäten Fribourg und Bern lehrt.
Dadurch werde die Unschuldsvermutung stark in Mitleidenschaft gezogen. Es bestehe die grosse Gefahr, dass man nicht mehr von einem fairen Verfahren sprechen könne. Sie sagt:
Zudem werde eine künftige Resozialisierung der beschuldigten Person unnötig erschwert oder gar verunmöglicht.
Heer stellt zudem eine Tendenz fest, Fehlverhalten öffentlich breit zu ächten. «Das bezieht sich nicht nur auf strafrechtlich relevante Phänomene, sondern auch auf moralisch oder ethisch missbilligte Verhaltensweisen», sagt sie.
Wie unbedarft man in der Öffentlichkeit von einem strafbaren Verhalten von Herrn Vinzenz ausgehe, sei bemerkenswert und bedenklich. Es würden dabei ungeachtet jeglicher juristischer Überlegungen offensichtlich moralische und strafrechtlich relevante Aspekte vermischt. «Eine solche Hetzjagd gegenüber Herrn Vincenz ist für mich ungeachtet eines späteren Ergebnisses des Prozesses nicht hinzunehmen, das steht einem Rechtsstaat schlecht an.»
Das bedeute ein Rückfall in überholte Muster und eine Abkehr von einem rechtsstaatlichen Denken. Sie sagt:
Sie geht davon aus, dass Vincenz im Falle einer Schuldspruchs aufgrund der Vorverurteilung von einer Strafmilderung profitieren würde. Wie die ausfallen werde, lasse sich ohne Aktenkenntnis aber nicht sagen. «Die Strafzumessung ist ein äussert komplizierter Prozess, die Höhe der Strafe wird von verschiedensten unterschiedlichen Faktoren beeinflusst.» Eine Praxis des Bundesgerichts mit konkreten Zahlen findet sich nicht.
Beachte man aber Urteile des Bundesgerichts und die Literatur, so gebe Anlass zu einer Strafminderung die Tatsache, dass einerseits eine Vorverurteilung durch die Strafverfolgungsbehörde vorgenommen wurde. «Die Justiz fühlt sich hier verantwortlich für das Handeln ihrer Akteure. Es wird damit überdies auch etwa der Tatsache Rechnung getragen, dass die Belastung durch das Strafverfahren für eine betroffene Person übermässig ist», sagt Heer. Ins Gewicht falle unter Umständen auch, dass die Berichterstattung nicht sachlich war oder sich Vorwürfe, die breit öffentlich diskutiert wurden, später als unbegründet erwiesen.
Ein Blick auf andere Strafprozesse in Sachen Wirtschaftskriminalität zeigt, wie die Medienberichterstattung das Urteil beeinflussen kann. Jüngst etwa im Fall Hans Ziegler. Das Bundesstrafgericht hat den ehemaligen Topmanager im Juni 2021 erstinstanzlich zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten sowie einer Busse von 10'000 Franken verurteilt. Es sprach den 68-Jährigen wegen Insidergeschäften, wirtschaftlichen Nachrichtendienstes und Verletzung des Geschäftsgeheimnisses schuldig. Im schriftlichen Urteil rechnete das Gericht es als strafmildernd an, dass über Ziegler «zahlreiche Presseartikel, die den Beschuldigten nicht nur beim Namen nannten, sondern - ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorgelegen hätte - in ein äusserst schlechtes Licht stellten». Aufgrund der medialen Vorverurteilung reduzierte das Gericht die Freiheitsstrafe um einen Monat.
Auch im Fall des inzwischen verstorbenen Rolf Erb beeinflusste die Vorverurteilung das Urteil. Der frühere Chef der konkursiten Winterthurer Erb-Gruppe wurde wegen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfacher Gläubigerschädigung durch Vermögensverminderung zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Zweitinstanzlich reduzierte das Zürcher Obergericht seine Strafe um ein Jahr auf sieben Jahre. Ausschlaggebend war laut Gericht die mediale Vorverurteilung in Kombination mit der langen Verfahrensdauer.
Es liegt auf der Hand, dass es im Falle einer Verurteilung von Pierin Vincenz ähnlich sein dürfte. Aber auch: Dass der frühere Raiffeisenchef im Falle eines Freispruchs für die Vorverurteilung entschädigt werden muss. (saw/aargauerzeitung.ch)
Wer Genug Geld hat, für den gelten andere Massstäbe.
Hoffen wir auf kompetente Richter und einen fairen Prozess
Vielleicht sollte sich die Justiz auch mal Gedanken machen, woher diese öffentliche Verurteilung und Empörung kommt. Könnte ja sein, dass die heutige Praxis für Laien völlig absurd ist.
Zuerst freestyle fuck im 4i.
Jetzt Opfer. Richter voll böse böse