Die Sozialhilfe ist in der Schweiz ein umstrittenes Thema. Linke Politiker wollen sie ausbauen, rechte Politiker kürzen. Die Gesetzeslage ist in den Kantonen zwar nicht ganz deckungsgleich, mit der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe gibt es aber zumindest einen nationalen kleinsten Nenner. Genau hier setzt die Berner Reform an. Doch was hat das konkret zu bedeuten? Fünf Fragen und Antworten dazu.
In Bern bewegen sich die Sozialhilfebeiträge der Grundversorgung etwas unter den Richtwerten der SKOS. So beträgt zum Beispiel der Grundbedarf 977, und nicht wie von der SKOS vorgeschlagen 986, Franken.
Insgesamt sind im Kanton 42’700 Personen oder 4,2 Prozent der Bevölkerung von der Sozialhilfe abhängig. Das ist rund ein Prozentpunkt mehr als im Schweizer Durchschnitt. 56 Prozent der Bezüger haben den Schweizer Pass, 44 Prozent sind Ausländer. Etwa ein Drittel der Betroffenen arbeitet, ein Drittel ist auf der Suche und ein Drittel kann aufgrund von gesundheitlichen Problemen nicht arbeiten.
Obschon sich die Zahl der Bezüger verkleinert hat, sind die Ausgaben des Kantons und der Gemeinden in diesem Bereich in den letzten Jahren gestiegen. 2017 gaben Gemeinden und Kanton fast 530 Millionen an wirtschaftlicher Hilfe aus. Insgesamt beliefen sich die Sozialausgaben auf etwa eine Milliarde Franken. 2009 lagen diese Beträge noch bei 370 Millionen beziehungsweise 790 Millionen Franken.
Auf dem Tisch liegen in Bern eine Teilrevision des Sozialhilfegesetzes (SHG-Revision), der «Volksvorschlag für eine wirksame Sozialhilfe» und der Status Quo.
Die SHG-Revision sieht eine Kürzung des Grundbedarfs um acht Prozent vor. Ausserdem soll das System so umgestellt werden, dass die Sozialhilfebezüger zu Beginn deutlich weniger wirtschaftliche Unterstützung erhalten. Wenn sie sich dann als kooperations- und integrationswillig zeigen, kann dieser Betrag nach und nach erhöht werden. Heute ist es genau umgekehrt: Widersetzt sich ein Sozialhilfebezüger den Anordnungen des Betreuers, werden Leistungen gestrichen.
Denn getragen wird diese Revision besonders von der SVP. Ausgedacht hat sie sich SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg. Der 57-Jährige stammt aus dem Berner Jura, leitete als Ingenieur eine IT-Firma und ist Mitglied einer evangelischen Freikirche. Für ihn ist klar: «Ist es Nächstenliebe, wenn man junge Menschen daheim sitzen lässt und sie mit Geld des Staats alimentiert? Nein!», so der Regierungsrat kürzlich im «Tages-Anzeiger».
Von der anderen Seite des politischen Spektrums stammt der Volksvorschlag. Dieser verlangt, dass der Kanton Bern die Sozialhilfe genau nach den neuen SKOS-Richtlinien ausrichtet. Das würde bedeuten, dass der Grundbedarf von 977 auf 986 Franken gehoben wird. Ausserdem sollen über 55-jährige Arbeitslose nicht mehr Sozialhilfe, sondern Ergänzungsleistungen beziehen. Das würde zu einer deutlichen Besserstellung von älteren Personen führen.
Hinter diesem Vorschlag steht die SP, die Grüne, die EVP sowie einige Dachverbände für soziale Arbeit und Sozialhilfe.
Die kantonale Abstimmung in Bern wird die ganze Schweiz tangieren, denn: Heute richten sich alle Kantone mehr oder weniger nach den Richtlinien der SKOS. Diese wurden erst 2016 eingeführt und von allen Kantonen akzeptiert. Würde der Kanton Bern nun stärker von diesen Richtlinien abweichen, könnten andere Kantone folgen.
So gibt es ähnliche Bestrebungen in den Kantonen Basel-Landschaft und Aargau. Hier soll die Sozialhilfe gar auf das Existenzminimum – also um rund 30 Prozent – gesenkt werden. Es ist kein Zufall, das gleich in mehreren Kantonen über die Höhe der Unterstützung befunden wird. Dahinter steht ein Verbund aus Politikern rund um den ehemaligen SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer. Diese wollen die Sozialhilfe in allen Kantonen senken.
Weiter haben bereits die Nachbarkantone Solothurn, Freiburg und Aargau auf die SHG-Revision in Bern reagiert. Hier wird in den jeweiligen Kantonsparlamenten bereits diskutiert, wie man mit der tieferen Sozialhilfe in Bern umgehen soll. Die Befürchtung: Sozialhilfebezüger könnten in die Nachbarkantone auswandern. Damit würde der Kanton Bern wieder einen interkantonalen Konkurrenzkampf vom Zaun brechen, der mit den SKOS-Richtlinien beseitigt werden sollte.
Entscheidet sich das Berner Stimmvolk für die Vorlage der SVP, wird der Grundbedarf für die Sozialhilfebezüger um rund 8 Prozent gekürzt. Gleicht der Kanton Bern seine wirtschaftliche Hilfe den Richtlinien der SKOS an, wie dies der Volksvorschlag wünscht, erhalten sie hingegen 8 Franken mehr.
Betroffen ist von diesen potentiellen Kürzungen oder Verbesserungen nur der Grundbedarf. Dieser stellt etwas mehr als ein Drittel der Leistungen dar. Die Sozialhilfe besteht aber noch aus weiteren Teilen wie der medizinischen Grundversorgung (Krankenkassenprämien), Wohnkosten, Anreizleistungen (zum Beispiel Integrationszulagen) und situationsbedingte Leistungen (für Notfälle).
Die Befürworter der Reduktion von Sozialhilfeleistungen erhoffen sich durch die SHG-Revision, dass für Bezüger so ein stärkerer Anreiz für eine Rückkehr in das Arbeitsleben geschaffen wird. Die Anpassung an die SKOS-Richtlinien hingegen würden das Gegenteil bewirken.
Die Gegner der Kürzungen betonen hingegen, dass 907 Franken Grundbedarf im Monat nicht mehr ausreichten. Zwar würden die Sozialhilfeempfänger nicht hungern, dafür würden die sozialen Kontakte leiden. Zumal die Ausgaben dafür eh schon knapp bemessen sind. Damit würde die Isolation von wirtschaftlich schwachen Personen weiter vorangetrieben.
Mit der Revision würde der Kanton Bern laut Schätzungen fünf Millionen Franken sparen. Weiter würden auch die Gemeinden mit etwa fünf Millionen weniger Ausgaben belastet. Das entspricht einer Entlastung von 0,044 Prozent auf kantonaler und 0,083 Prozent auf kommunaler Ebene. Pro Kopf könnten so etwa 10 Franken im Jahr gespart werden.
Würde der Kanton Bern seine Hilfe jedoch an die SKOS-Richtlinien angleichen, entstünden Mehrausgaben von etwa 17 bis 28 Millionen Franken. Pro Kopf wären das etwa 20 Franken mehr im Jahr.
Ausserdem stellt sich die Frage nach der Legalität der Revision. Denn das Existenzminimum ist in der Verfassung verankert. Deshalb kommt Pascal Coullery, Dozent an der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit, im «Bund» zum Schluss: «Die geplanten Kürzungen über einen längeren Zeitraum hinweg sind bundesverfassungswidrig.»
@SVP ^^