Der Fall sorgte vergangene Woche weit über die Kantonsgrenzen für Aufsehen: Nachdem der Mietvertrag eines Eritreers in Rafz ZH ausgelaufen war und der junge Mann trotz 100 Bewerbungen keine neue Unterkunft fand, weigerte sich die Gemeinde, ihn bei der Suche zu unterstützen. Stattdessen wurde ihm vom Sozialsekretariat nahegelegt, eine Notschlafstelle in Zürich oder eine Flüchtlingsunterkunft aufzusuchen, oder – da die Temperaturen nun wieder wärmer seien – im Freien ein Zelt aufzustellen. Für Beobachter ist klar: Rafz versucht, einen ihr unliebsamen Sozialhilfebezüger abzuschieben.
Kein Einzelfall, wie ein Blick auf die Landkarte zeigt. Mit verschiedenen Mitteln versuchen Gemeinden in der ganzen Schweiz, Sozialhilfebezüger loszuwerden. Um das sogenannte Abschiebeverbot zu umgehen, werden mitunter kreative Lösungen angewendet.
Meist handelt es sich um Gemeinden mit einer hohen Sozialquote, die über die finanzielle Last und die fehlende Unterstützung durch die Kantone klagen. Das Problem zeigt sich laut Alexander Suter, Rechtsexperte der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS, vor allem dann, wenn es nicht nur um den Lebenserhalt geht, sondern weitere Kosten dazukommen, zum Beispiel die Fremdplatzierung bei Kindern. «In diesen Fällen geraten kleinere Gemeinden mit geringem Budget schnell unter Druck», so Suter.
Tatsächlich stiegen in der Schweiz die Ausgaben für die Sozialhilfe seit 2005 um das Doppelte auf 2.7 Milliarden Franken, mehr Menschen leben von der Sozialhilfe. Die Zunahme widerspiegelt einerseits das Bevölkerungswachstum und anderseits die steigenden Mieten und Krankenkassenprämien.
Für Suter ist klar: «Die Probleme betreffen vor allem Kantone, in denen kein fairer Kostenausgleich existiert. Die SKOS stellt deshalb schon lange die Forderung nach einem wirksamen Kostenausgleich.» Insgesamt, so Suter, seien die Kosten nämlich durchaus zu bewältigen.
Ähnlich sieht das Pierre Heusser, Vertrauensanwalt der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS: «In Kantonen mit kantonaler Finanzierung, beziehungsweise einem horizontalen Sozialhilfeausgleich unter den Gemeinden, ist die Situation viel entspannter als in den Kantonen, in denen jede Gemeinde die Sozialhilfe aus dem eigenem Budget finanzieren muss.»
Auch der Schweizerische Gemeindeverband SGV, der 72 Prozent aller Gemeinden vertritt, begrüsst eine solidarischere Verteilung der Kosten: «Ein System wie der innerkantonale Lastenausgleich zwischen den Gemeinden ist deshalb auch aus Sicht des SGV ein wichtiges Instrument, das die einzelne Gemeinde entlasten kann.» Es löse keine Probleme, wenn die Person einfach an die Nachbarsgemeinde «abgeschoben» werde. Vielmehr müsse es im Interesse der Gemeinden liegen, dass hier eine gewisse Solidarität greift.
Die Bilder brachten ihn vom Gemeindepräsidenten einer kleinen Aargauer Gemeinde bis in den Nationalrat. Als Andreas Glarner 2015 unverfroren in Kameras vom Lokal-TV bis zum ARD diktierte, dass er lieber Häuser niederreisse als Flüchtlinge aufzunehmen, die seiner Gemeinde auf der Tasche lägen, entfachte er einen Sturm der Entrüstung, der über zwei Jahre andauerte und Glarner schliesslich ins Schweizer Bundeshaus trug.
Glarner ist mittlerweile nicht mehr Gemeindeammann, seine Methoden bereut er aber auch drei Jahre später kein Stück. In einem Interview mit der «Limmattaler Zeitung» Anfang Jahr gab Glarner unumwunden zu, dass es sein Ziel war, Oberwil-Lieli für Sozialhilfebezüger unattraktiv zu machen. «Es geht in diese Richtung, ja. Man kann nicht einfach Geld verteilen an jene, die Geld abholen wollen. Man muss die Leute röntgen, ihnen das Autokennzeichen wegnehmen, sie zum Arbeiten bringen.»
Einen ähnlichen Ansatz wie Glarner wählte die Aarburger Sozialhilfevorsteherin Martina Bircher (SVP). Um die jährlichen Kosten zu senken, die Flüchtlinge der Gemeinde pro Jahr verursachten, entschied sich Bircher, das Mietgeld in einzelnen Fällen zu kürzen. Die Differenz zum effektiven Mietzins mussten die Flüchtlinge aus der eigenen Tasche berappen. Geld aus dem Existenzminimum, das nicht für die Miete gedacht ist.
Beobachter wie Rechtsanwalt Heusser sprechen von einem Wettbewerb unter den Gemeinden, sich gegenseitig Sozialhilfebezüger zuzuschieben. Eine der «sanfteren» Methode dabei ist das Anpreisen der Leistungen in den Nachbargemeinden gegenüber Sozialhilfebezügern. Eine andere, dass die Gemeinde zusagt, Umzug und Mietkaution zu übernehmen, falls die Person sich zum Wegzug entschliesse. Dies sagte der Leiter der sozialen Dienste St.Gallen gegenüber dem Tages-Anzeiger 2015.
Heusser ist überzeugt, dass derartige Fälle zunehmen werden. «Im Endeffekt führt dies zu einem unwürdigen Sozialhilfewettbewerb, analog zum Steuerwettbewerb.» Dies liege auch daran, dass sich das Image der Sozialhilfe verändert habe. «Früher sprach man von einer Hilfeleistung, heute ist es ein Kostenfaktor. Daran ist die SVP mitverantwortlich, die sich den Kampf gegen angebliche Sozialhilfebetrüger auf die Fahnen geschrieben hat und daran interessiert ist, Einzelbeispiele aufzubauschen und zu verallgemeinern.»
Noch einmal Aarburg, noch einmal die SVP-Grossrätin Bircher. Mit einer Motion forderte Bircher die Regierung auf, Ausländer, die Sozialhilfe beziehen, konsequenter auszuschaffen. Die Schweiz importiere Ausländer aus Drittstaaten in die Sozialhilfe, anstatt sie auszuschaffen, kritisierte Bircher in einem Interview mit dem «Zofinger Tagblatt» im Januar. Die Regierung lehnte die Motion zwar schliesslich ab, setzte die Hürden für Verwarnungen von ausländischen Sozialhilfebezügern aber herunter, wie die Aargauer Zeitung berichtete.
Günstiger Wohnraum, das ist für den Gemeindepräsident von Schmerikon ein Graus. Félix Brunschwiler (parteilos) ist überzeugt, die Sozialhilfequote seiner Gemeinde lässt sich senken, wenn man nur die Zahl von günstigen leerstehenden Wohnungen senkt. Brunschwiler rief deshalb in diesem Frühling an einer Bürgerversammlung im April Eigentümer auf, ihre Liegenschaften aufzuwerten, um die Mietpreise erhöhen zu können. Je mehr teurer Wohnraum, desto weniger Sozialhilfebezüger, so die Milchbüchleinrechung in Schmerikon. Ähnlich ging die Baselbieter Gemeinde Grellingen vor einigen Jahren vor.
Funktioniert ähnlich wie die Aufwertungs-Methode. Im Unterschied zu obiger funktioniert sie aber auch ganz ohne dass Eigentümer Geld in ihre Liegenschaften stecken müssen. Riniken, eine kleine Aargauer Gemeinde, forderte 2014 Hausbesitzer auf, ihre Liegenschaften nicht an Personen zu vermieten, die von ausserhalb kommen und Sozialhilfe beziehen, wie SRF berichtete.
Einen originellen Kniff liess sich Emmen 2010 einfallen: Die Vorortsgemeinde der Stadt Luzern deutete eine private Pension einst ohne viel Aufhebens zu einem Heimplatz um. Weil diese nicht als Wohnsitz gelten, hätte so die Herkunftsgemeinde für die Kosten tragen müssen. Das abenteuerliche Vorgehen Emmens scheiterte schliesslich vor dem Luzerner Verwaltungsgericht.
Dass Rorschach als erste Gemeinde überhaupt aus der SKOS-Richtlinie ausgetreten ist, hat massgeblich mit einer Person zu tun: Gemeindepräsident Thomas Müller, «Sozialexperte» der SVP. Müller, hinter vorgehaltener Hand auch als «König von Rorschach» bekannt, zog schon fast alle Register, um Sozialhilfebezüger loszuwerden – unter anderem auch die Aufwertung von günstigen Altbauwohnungen. Ein Fall aus dem Jahr 2015 war aber selbst für Müller-Verhältnisse ungewöhnlich: Der SVP-Nationalrat soll damals durch persönliche Intervention verhindert haben, dass eine Sozialhilfebezügerin und zweifache Mutter Wohnsitz in der Gemeinde erhielt, wie der «Beobachter» berichtete. Müller, beziehungsweise Rorschach, wurde schlussendlich 2016 vom Kanton St.Gallen zurückgepfiffen.