Tamara Funiciello wundert sich selbst. «Das sind eigentlich rechte Forderungen», sagt die Berner SP-Nationalrätin. Denn der Erhalt der Kaufkraft sei im Interesse der Wirtschaft. «60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hängen vom Konsum ab», erklärt Funiciello im Gespräch: «Wenn die Leute weniger Geld haben, gehen sie nicht mehr ins Restaurant oder ins Kino.»
Die Kaufkraft ist das wichtigste Wahlkampfthema der SP Schweiz. Zusammen mit Grünen und Gewerkschaften organisierte sie am letzten Samstag in Bern eine nationale Kaufkraft-Demo. «Alles wird teurer – Löhne und Renten rauf!», stand auf einem Transparent. Dreimal in Folge seien die Realeinkommen zurückgegangen, sagte Nationalrat Pierre-Yves Maillard.
Oberflächlich betrachtet erstaunt dieser Aktionismus, denn die Schweiz gilt bei der Teuerung als «Insel der Seligen». Seit Februar ist die Inflationsrate von 3,4 auf 1,6 Prozent gesunken. Das ist deutlich weniger als im europäischen Umfeld. Doch dieses rosige Bild täuscht. In den nächsten Monaten droht in mehreren Bereichen ein Teuerungs-Hammer:
Für einen zusätzlichen Teuerungsschub im nächsten Jahr sorgt die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozent aufgrund der AHV-Reform. Es kommt somit einiges auf die Bevölkerung zu. Insbesondere ein gleichzeitiger Anstieg von Mieten und Krankenkassenprämien wird das Budget vieler Schweizer Haushalte strapazieren.
Die Befürchtung von Tamara Funiciello, der Konsum könnte leiden, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn die Schweiz nicht so weit ist wie Grossbritannien. Dort machen immer mehr Pubs zu, wegen gestiegener Kosten und Personalmangel, aber auch weil die Konsumenten kein Geld haben für ein Pint nach Feierabend. Und nicht nur dafür.
«Wir sollten nicht warten, bis es wie in Grossbritannien heisst: ‹Heat or eat›», sagte Preisüberwacher Stefan Meierhans im Interview mit CH Media. Er hatte kürzlich einen «Kaufkraftgipfel» veranstaltet. Viele europäische Länder würden etwas unternehmen und etwa die Preise für Energie deckeln, sagte er: «Eigentlich machen alle etwas, nur die Schweiz schaut tatenlos zu.»
Am meisten betroffen sei die untere Mittelschicht, «die keine staatlichen Subventionen erhält», sagte Meierhans. Doch auch die «mittlere» Mittelschicht gerate zunehmend ins Sandwich, meint eine Nationalrätin: «Früher konnte eine Familie mit einem Einkommen von 100’000 Franken komfortabel leben. Jetzt kann es selbst für sie schwierig werden.»
Gerade die Krankenkasse wird für mittelständische Familien zunehmend untragbar, weil sie in der Regel keine Prämienverbilligungen erhalten. Einen Linksrutsch bei den Wahlen aber erwartet kaum jemand im Parlament. Allenfalls komme es zu Verschiebungen im linken Lager von den Grünen zur SP. Darauf deuten Umfragen und die watson-Wahlbörse hin.
Die SVP punktet mit Asyl und Migration, und für die «besserverdienende» Wählerschaft von FDP und GLP ist der Leidensdruck wohl zu wenig hoch. Eine zwiespältige Rolle spielt die Mitte. Beim Gegenvorschlag zur Prämienentlastungs-Initiative der SP schwenkte sie letzte Woche im Nationalrat auf die schwächere Variante des Ständerats ein.
Zwar anerkannte der Thurgauer Nationalrat Christian Lohr, dass die Belastung für den Mittelstand durch die Krankenkassenprämien «unerträglich» werde. Und auch er fand es irritierend, dass viele Kantone ihre Beiträge an die Verbilligungen in den letzten Jahren reduziert haben. Doch nur der Kurs des Ständerats sei «ein machbarer Weg».
Indirekt anerkannte Lohr damit die Tatsache, dass die Mitte-Ständeräte ursprünglich gar keinen Gegenvorschlag zur SP-Initiative wollten. Gleichzeitig beklagte die Mitte in einer Mitteilung, dem Gegenvorschlag zu ihrer eigenen Kostenbremse-Initiative fehle «die Verbindlichkeit». Denn konkrete Kosten- und Qualitätsziele wurden herausgestrichen.
Zum Problem wird das für die Mitte-Partei kaum. Sie kann vielmehr hoffen, die FDP bei den Wahlen zu überholen. Auch die watson-Wahlbörse deutet darauf hin. Eine der Partei nahestehende Campaignerin bezweifelt, dass sich Wählerinnen und Wähler mit dem Begriff Kaufkraft mobilisieren lassen. Er sei «zu abstrakt», um als Zugpferd zu funktionieren.
Tatsächlich realisieren viele Menschen den Ernst der Lage erst, wenn ihnen die Rechnungen ins Haus flattern. Und das wird in den meisten erwähnten Bereichen nach den Wahlen am 22. Oktober der Fall sein. Eine Ausnahme sind die Mieten. Zu diesem Thema haben SP und Grüne eine ausserordentliche Session im Nationalrat durchgesetzt.
Im nächsten Jahr aber könnte die Linke die Früchte ernten. Die Entlastungs-Initiative der SP, die die Prämien bei zehn Prozent des verfügbaren Einkommens deckeln will, dürfte angesichts des «mageren» Gegenvorschlags auf erheblichen Zuspruch stossen. Und auch die Initiative der Gewerkschaften für eine 13. AHV-Rente ist alles andere als chancenlos.
Scheint die CH Politik des 21. Jahrhunderts zu sein... kommt nicht gut!