Schweiz
Wirtschaft

Immer mehr Schweizer verschulden sich in der Folge der Corona-Krise

Armut war in der Schweiz bis vor kurzem zu einem grossen Teil unsichtbar. Die Corona-Pandemie draengt jetzt viele Menschen, die bisher an oder knapp ueber der Armutsgrenze lebten, in eine existenziell ...
In der Schweiz steigt die Zahl der verschuldeten Personen.Bild: keystone

Immer mehr verschulden sich – im Herbst rollt grosse Betreibungswelle an

Lohneinbussen wegen Corona und vermehrter Konsum auf Pump: Die Zahl der überschuldeten Personen hat deutlich zugenommen.
11.10.2020, 16:44
gabriela jordan / schweiz am wochenende
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Viele Schweizerinnen und Schweizer konnten in den vergangenen Monaten sparen. Statt ihr Geld für Ferien und Freizeit auszugeben, häuften sie es auf dem Konto an. Vielen anderen erging es aber genau umgekehrt, wegen Kurzarbeit oder Jobverlust klafft ein Loch im Portemonnaie. Wer seine Rechnungen nicht bezahlt hat, musste sich bisher trotzdem nicht vor Geldeintreibern fürchten. Weil während des Lockdowns ein temporärer Betreibungsstopp galt, schoben Gläubiger ihre Forderungen vorerst auf. Laut dem Verband der schweizerischen Betreibungsämter sind die Fallzahlen im Vergleich zu Vorjahren um bis zu 20 Prozent im Rückstand.

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Die Verzögerung dürfte aber schon bald aufgeholt werden: Betreibungsämter und Inkassofirmen rechnen damit, dass es im Herbst eine Welle von Betreibungen und Gläubigerforderungen geben wird, sei es von Krankenkassen, Telekomfirmen oder Detailhändlern. «Bisher warteten manche Gläubiger vielleicht aus Solidarität zu», sagt Stephan Boesch, Präsident der Zentralschweizer Betreibungsämter. «Jetzt dürften sie ihre offenen Beträge auf einmal einfordern.» Dafür haben sie drei Möglichkeiten: Es auf eigene Faust versuchen, private Inkasso-Anbieter beauftragen oder den gerichtlichen Weg (Betreibung) einschlagen.

Schuldenberatungen sind «ziemlich auf Nadeln»

Schuldenberatungen sind ob dieser Situation beunruhigt. Auch sie glauben, dass es zu einem deutlichen Anstieg überschuldeter Personen gekommen ist. Häufiger als sonst klingelt das Telefon aber noch nicht: «Wir spüren solche Entwicklungen immer erst verzögert und sind deshalb ziemlich auf Nadeln», sagt Olivia Nyffeler, Rechtsanwältin bei der Berner Schuldenberatung. Ehe sich Betroffene entschliessen, eine Beratungsstelle aufzusuchen, haben sie demnach meist schon mehrere Mahnungen und Zahlungsbefehle per Post erhalten. Damit es gar nicht erst so weit kommt, empfiehlt Nyffeler, frühzeitig zu handeln und mit Gläubigern eine Lösung zu suchen.

Wachsender Schuldenberg: Was tun?
💡 Prioritäten setzen: Welche Rechnungen muss ich zwingend bezahlen, welche können warten? Miete, Nebenkosten und Krankenkassenprämien sind ein Muss, da sie zum Existenzminimum gehören. Für sie empfiehlt sich ein Dauerauftrag oder Lastschriftverfahren (LSV). Kredite oder Leasingverträge können notfalls warten.

💡 Aktuelle Rechnungen vorziehen: Hinten anfangen und sich zu den aktuellen Rechnungen vorarbeiten? Falsch. Besser ist, aktuelle Rechnungen zuerst zu begleichen, da diese Kosten im Falle einer Betreibung sonst nicht ins betreibungsrechtliche Existenzminimum einberechnet werden und die Pfändungssumme höher ausfällt.

💡 Gläubiger kontaktieren statt sich umzuschulden: Kredite aufnehmen um andere Rechnungen zu begleichen? Ein solches Vorgehen kann schnell ausser Kontrolle geraten. Besser ist es, Kontakt mit dem Gläubiger aufzunehmen und einen realistischen Zahlungsvorschlag ausarbeiten, zum Beispiel in Form von Raten. Falls nötig kann man um einen Zahlungsaufschub bitten.

💡 Konsumverhalten anpassen und Reserven anlegen: Gerade wenn man weiss, dass eine Wirtschaftskrise bevorsteht oder sich die persönlichen Einkommensverhältnisse aus sonstigen Gründen ändern werden, sollte man unnötige Ausgaben reduzieren und etwas Geld auf die Seite legen.

💡 Schuldenberatung aufsuchen: Kantonale Schuldenberatungsstellen und Organisationen wie Caritas bieten Schuldnern professionelle und kostenlose Unterstützung an. Bei Geldproblemen heisst es also: Schamgefühle beiseite stellen und Hilfe annehmen.
(gjo)

Während des Lockdowns sei das Beratungstelefon «praktisch verstummt», sagt Nyffeler weiter. Die Leute hatten plötzlich andere Ängste, mussten sich in der neuen Situation zurechtfinden, Betreuung für ihre Kinder organisieren. Geldsorgen dürften bei einigen kurzzeitig in den Hintergrund getreten sein. Doch jetzt klingle das Telefon wieder wie eh und je, in Luft aufgelöst hätten sich die Geldsorgen nicht, bei manchen seien sie sogar schlimmer geworden.

Schuld daran ist aber nicht bloss Corona. In die Schuldenspirale geraten häufig Leute, die ihren Konsum nicht im Griff haben: Sie kaufen unbeschwert Kleider, Möbel oder Elektronikprodukte auf Kredit ein und verschieben die Zahlung auf den St.Nimmerleinstag – moderne Zahlungsmethoden wie Paypal machen es möglich. Oder sie haben mehrere Leasingverträge und somit relativ hohe monatliche Fixkosten, die sie sich im Falle eines Jobverlustes nicht mehr leisten können. Gerade der coronabedingte Boom des Onlineshoppings könnte das Problem der Überschuldung verschärft haben. Darüber hinaus verschulden sich Leute freilich auch aus Gründen wie Scheidung, Krankheit, Erbschaft oder Familiengründung.

Inkassofälle nehmen schon seit Jahren zu

«Zahlreiche Leute leben über ihren Verhältnissen und bezahlen Rechnungen einfach nicht. Solche Inkassofälle nehmen seit Jahren zu», sagt Dick Wolff, Inhaber der Liechtensteiner Inkassofirma IB Score AG, beim Besuch seines Betriebs in Liechtenstein. IB Score AG ist in der Schweiz, in Liechtenstein sowie im Ausland tätig. «Wir haben deshalb mehr als genug Arbeit und wollen nicht von der Coronakrise profitieren», betont er im Gespräch, darum bemüht, den schlechten Ruf seiner Branche zu korrigieren.

Der Branche wird zum Beispiel vorgeworfen, Schuldner mit harten Formulierungen und Drohungen zu verunsichern (siehe Interview unten). Nicht selten werden Inkassofälle in Sendungen wie «Kassensturz» thematisiert. Wolff argumentiert, dass in diesem Bereich die Rolle des Täters und Opfers in der öffentlichen Wahrnehmung vertauscht ist. «Firmen haben das Recht, bezahlt zu werden. Sonst kommen sie in finanzielle Schwierigkeiten.» In der aktuellen Situation könnte es so tatsächlich zu einer Abwärtsspirale kommen. Schon jetzt wird im Herbst mit einer Welle von Firmenkonkursen gerechnet.

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22 Kommentare
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Biindli
11.10.2020 17:18registriert Oktober 2015
Wenn man die Krankenkasse und die Steuern nicht bezahlen kann ist das wirklich tragisch und ich hoffe die Betroffenen erhalten Unterstützung. Für den Rest gilt: Hast du kein Geld, dann kauf es NICHT. Ich finde es sehr bedenklich, dass man heute so vieles in Raten bezahlen kann.
Ich selbst bin mal 3 Jahre mit 1500.- / monat durchgekommen. Schulden habe ich keine gemacht jedoch öfters mal eine Occasions-Anschaffung gemacht etc. Mir ist kein Zacken aus der Krone gefallen dabei.
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kliby
11.10.2020 16:58registriert September 2015
Lasst mich raten: Die die in Politik und Verwaltung über Corona-Themen und -Massnahmen entscheiden, gehören nicht zu jenen denen Verschuldung und Privatkonkurs drohen.

Überraschung aber auch.
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Unicron
11.10.2020 17:25registriert November 2016
Es ist schon hart. Normalerweise hatte ich pro Jahr alleine durch Überstunden welche ausbezahlt werden um die 10'000fr mehr pro Jahr als 2020. Das Geld reicht um die Rechnungen zu bezahlen, aber Luxus wie auswärts essen oder Ausflüge liegen halt eher nicht drin.

Immerhin zahle ich dafür wohl nächstes Jahr massiv weniger Steuern 😂
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