So hat die Personenfreizügigkeit die Schweiz verändert – in 11 Punkten
Am 27. September stimmen wir unter anderem über die Volksinitiative «Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)» ab. Diese will die Personenfreizügigkeit beenden. Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative ab, weil sie Arbeitsplätze und den Wohlstand aufs Spiel setze. Das Initiativkomitee sagt, dass es seit der Personenfreizügigkeit eine Massenzuwanderung gab und die Arbeitslosigkeit steigen werde. Gehe dies weiter, steige der Lohn- und Arbeitsdruck:
Darum geht es bei der Begrenzungsinitiative:
Die liberale Zürcher Denkfabrik Avenir Suisse veröffentlichte letzte Woche eine Studie, die sich mit den verschiedenen Auswirkungen der Personenfreizügigkeit beschäftigt. Wir haben die wichtigsten elf Punkte daraus zusammengefasst:
Wie sich die Migration entwickelte
Die Personenfreizügigkeit wurde ab 2002 schrittweise eingeführt. Die Folge war ein Wechsel bei den Einwanderungsländern in die Schweiz. Dominierten zuvor Drittländer, waren es danach Staatsangehörige aus den EU- und Efta-Ländern.
Insgesamt wanderten von 2002 bis 2018 1'542'593 Personen aus dem EU/Efta-Raum in die Schweiz ein, 802'415 wanderten wieder aus. Der Wanderungssaldo beträgt somit 740'178 Personen. Die jährliche Nettozuwanderung liegt im Schnitt bei 43'539 Personen.
Konjunkturelle Abhängigkeit
Erlebt die Schweiz ein höheres wirtschaftliches Wachstum, steigen auch die Wanderungsüberschüsse, umgekehrt sinkt sie.
So ging das wirtschaftliche Wachstum mit den Wanderungsüberschüssen einher, als es Ende der 1990er Jahre einen Aufschwung gab und auch während der Boomphase 2005 bis 2008. In die andere Richtung ging es beim Platzen der «Dot-com-Blase» 2001, der Wirtschaftskrise 2009 oder der Frankenstärke.
Demografische Entwicklung
Aufgrund der demografischen Entwicklungen ändert sich der Schweizer Arbeitsmarkt. 2021 werden mehr Erwerbspersonen den Ruhestand erreichen, als junge Erwachsene in den Arbeitsmarkt eintreten. Dieser Unterschied wird in den nächsten Jahren zunehmen.
Ohne Immigration dürfte die demografische Entwicklung den Fachkräftemangel der Schweiz verschärfen. 2018 waren 50 Prozent der Einwanderer zwischen 23 und 34 Jahre alt. Ab 55 Jahren wandern mehr Ausländer aus als ein.
Bruttoinlandprodukt pro Kopf steigt
Das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf wächst seit 2002. Avenir Suisse schätzt, dass 40 Prozent der kumulierten Wachstumseffekte infolge der Bilateralen I auf die Personenfreizügigkeit zurückzuführen sind.
BAK Basel Economics kam bei einer Studie 2015 zum Schluss, dass bei einem Wegfall der Personenfreizügigkeit bis zum Jahr 2035 der kumulierte BIP-Verlust 258 Milliarden Franken betragen würde. Das effektive BIP könnte nur durch höhere Auslastung der noch vorhanden Kapazitäten (z.B. längere Arbeitszeiten) erhalten bleiben.
Wirtschaftliche Entwicklung in der Ära der Bilateralen
Neben dem realen Bruttoeinkommen pro Kopf entwickelten sich auch andere Indikatoren positiv. Am meisten zugelegt haben dabei die Exporte, was auch am verbesserten Zugang für Unternehmen aus der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt liegen dürfte.
Arbeitsplätze pro Kanton
Über 50 Prozente der Schweizer Exporte gehen in den EU-Binnenmarkt. Dadurch entstanden Arbeitsplätze. Gemäss der aktuellsten Daten von 2017 waren es 16,2 Prozent der Beschäftigten, die direkt vom ungehinderten Zugang zum EU-Binnenmarkt profitierten.
Folge für die Sozialversicherungen
Der Finanzierungs- und Bezugsbeitrag von EU/Efta-Bürgern variiert je nach Sozialwerk stark. Für die AHV und IV überwiegen die positiven Punkte, auch bei der Krankenversicherung ist die Auswirkung tendenziell positiv. Negative Aspekte sieht Avenir Suisse bei der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe.
Da die AHV, IV und KV die deutlich grösseren Sozialwerke als ALV und SH sind, sind die Aspekte insgesamt positiv zu bewerten.
Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte
Ein hoher Anteil der Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit besteht aus Fachkräften mit tertiärem Bildungsabschluss. Die Einwanderung wird nicht politisch gesteuert, sondern durch die Personalnachfrage der Wirtschaft. So werden vor allem Personen aus den EU/Efta-Ländern rekrutiert, welche Schweizer Firmen hier nicht finden.
Auswirkungen auf Schulen
27 Prozent der Kinder in Schweizer Schulen der obligatorischen Stufe haben eine ausländische Nationalität. Das ist ein relativ hoher Anteil. Da werden aber auch Kinder mitgezählt, welche hier geboren wurden.
Von den seit 2002 eingewanderten Arbeitern, weisen 55 Prozent einen Abschluss auf Tertiärstufe aus – der Anteil liegt somit höher als bei Schweizern. Zudem kommen 57 Prozent der Einwanderer über die Personenfreizügigkeit aus einem Nachbarland und sprechen daher mindestens eine Landessprache.
Avenir Suisse geht daher nicht von einem negativen Einfluss der Personenfreizügigkeit auf die Schulqualität aus.
Kriminalität und Sicherheit
95 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich «sicher» oder «sehr sicher», wie die jährliche Sicherheitsbefragung der Militärakademie der ETH Zürich zusammen mit dem Center for Security Studies zeigt. 2002, als die Personenfreizügigkeit in Kraft trat, waren es 86 Prozent.
Wie gross der Einfluss der Personenfreizügigkeit auf Kriminalitätsstatistiken ist, lässt sich aufgrund der Datenlage nicht untersuchen, weil ein langfristiger Vergleich der Zeiträume vor und nach dem Jahr 2002 fehlt. Dies müsste empirisch untersucht werden.
Preise für Wohneigentum
Ob die Personenfreizügigkeit das Wohnen verteuert oder nicht, kann – wie viele andere Punkte auch – nicht einfach so beantwortet werden.
Insgesamt kann das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung den Preisanstieg von Eigenheimen seit 2002 nur zu 27 Prozent erklären.
Bei den Mieten sieht es nochmals anders aus. Bevölkerungswachstum stellt keinen zulässigen Grund für Mietpreisanpassungen dar. Langjährige Mieter profitierten in den letzten Jahren eher von einer Mietsenkung. Gemäss dem Immobiliendienstleister Iazi lagen die die Mieten von bestehenden Verträgen 2018 rund 10 Prozent tiefer als 2002. Gemäss dem Mietpreisindex des BfS haben sich die Mieten seit 2002 real um 14 Prozent verteuert.
Ein punktueller Effekt der Zuwanderung auf Wohnkosten ist vorhanden, wohl aber kleiner, als Kritiker monieren. Insbesondere in Städten und der Agglomeration ist die Wohnungsknappheit hausgemacht.
(fox)