Die Umfragen lassen ein klares Nein zur Begrenzungsinitiative erwarten. Freuen Sie sich schon über Ihren absehbaren Sieg?
Karin Keller-Sutter: Ich freue mich natürlich über den Trend, aber man darf sich nicht auf Umfragen verlassen. Sie lagen auch schon falsch. Wir werden das Endergebnis erst am Nachmittag des 27. September kennen. «Nöd lugg la gwünnt», hiess es jeweils beim Schlittschuh-Club Herisau. Man muss dran bleiben und darf sich nicht in Sicherheit wiegen.
Sehen Sie einen Faktor, der das Ergebnis in ein Ja drehen könnte?
Im Moment nicht. Aber wenn so etwas eintritt, ist es in der Regel eine Überraschung, und die ist schwer vorauszusehen. Wichtig wird die Mobilisierung sein, aus Sicht der Gegner die Frage, ob wir mit der Begrenzungsinitiative die bilateralen Verträge gefährden wollen.
Die Gegner konzentrieren sich auf die Europa- und Wirtschaftspolitik. Ist das nicht etwas einseitig?
Die Initiative verlangt die Kündigung der Personenfreizügigkeit. Die sieben Abkommen der Bilateralen I hängen rechtlich zusammen. Es geht also faktisch um die Weiterführung des bilateralen Wegs. Nach dem EWR-Nein 1992 sagte auch die Seite, zu der die Initianten gehören, man solle eine bilaterale Lösung mit der EU finden. Dieser Weg wurde mehrfach vom Volk bestätigt. Jetzt geht es darum, ob wir ihn weiterführen wollen oder nicht.
Die SVP setzt auf emotionale Themen wie Heimat und Identität. Besteht nicht die Gefahr, dass die Zuwanderungsdebatte sich im Kreis dreht, wenn man sie nicht anspricht?
Wir leben in einer stolzen Schweiz und müssen nicht sagen «Make Switzerland great again». Sie ist eines der wettbewerbsfähigsten und international angesehensten Länder. Infrastruktur und Bildungsstandort sind hervorragend. Wir haben auch die Integrationsfragen viel besser gelöst als andere europäische Staaten. Wir sind nicht Mitglied der EU, weil wir es nie werden wollten, haben aber mit den bilateralen Verträgen einen massgeschneiderten Weg gefunden. Wenn man aus dieser Vorlage eine Abstimmung über die Ausländer in der Schweiz machen will, verkennt man, dass es jetzt nur um die Zuwanderung von EU-Bürgerinnen und -Bürger in den Arbeitsmarkt geht. Wenn man aus der EU hierhin kommen will, muss man einen Arbeitsvertrag haben oder genügend finanzielle Mittel, um den Lebensbedarf zu bestreiten. Es geht nicht um das Asylwesen, den öffentlichen Verkehr, die Drittstaaten-Ausländer oder die CO2-Belastung, sondern ausschliesslich um die Frage, ob man die Freizügigkeit kündigen und die bilateralen Verträge aufs Spiel setzen will.
Es handelt sich demnach um ein Ablenkungsmanöver, wenn die SVP vor einer 10-Millionen-Schweiz warnt?
Die Initianten sagen selber, die Schweiz brauche weiterhin Zuwanderung. In den nächsten zehn Jahren werden 800’000 Leute infolge Pensionierung aus dem Arbeitsmarkt austreten. 500’000 treten ein. Wir haben ein Nachwuchsproblem. Im Gesundheitssystem und in der Pflege haben wir aufgrund der Altersstruktur ebenfalls einen Bedarf an ausländischen Arbeitskräften. Selbst wenn wir die Freizügigkeit, die durchaus nicht nur Vorteile hat, durch ein anderes System ersetzen, haben wir trotzdem Zuwanderung. Da muss man sich schon die Frage stellen: Lohnt sich das, die Freizügigkeit zu kündigen und damit den bilateralen Weg zu gefährden? Das ist ein sehr hoher Einsatz.
Der Bundesrat hat mit der Überbrückungsrente eine Art inoffiziellen indirekten Gegenvorschlag durchgebracht. Auch während der Corona-Krise wurden Dinge realisiert, die zuvor undenkbar waren. Ist diese eine neue Art des Politisierens?
Ich war immer der Meinung, dass man Marktöffnungen sozial abfedern und begleiten muss. Das hat der Bundesrat bei der Personenfreizügigkeit seit 2002 gemacht, mit den flankierenden Massnahmen. Sie waren wichtig für das Gewerbe, das einen unlauteren Wettbewerb befürchtete, aber auch für die Gewerkschaften, die Angst vor Lohndumping hatten. Dem Bundesrat war von Anfang an bewusst, dass man die Personenfreizügigkeit auch sozial begleiten muss. In den letzten Jahren wurde vieles entwickelt, etwa die Stellenmeldepflicht, die sich meiner Meinung nach bewährt hat. Sie gibt arbeitslosen Inländern fünf Tage Vorsprung.
Die Überbrückungsrente ist die Fortsetzung dieser Politik?
Im Hinblick auf die Begrenzungsinitiative hat der Bundesrat von den Sozialpartnern ein Paket mit sieben Massnahmen übernommen. Die Überbrückungsleistung ist eine davon. Es geht darum, das inländische Arbeitskräftepotenzial zu fördern und zu bewirken, dass ältere Arbeitnehmende im Markt integriert bleiben. Es ist ein Thema, das die Leute unabhängig von dieser Initiative beschäftigt. Die Personenfreizügigkeit ist ein wettbewerbsorientiertes Modell. Wir müssen dafür sorgen, dass die inländischen Arbeitskräfte darin bestehen können.
Man müsste ehrlicherweise zugeben, dass man mit der Überbrückungsrente und den flankierenden Massnahmen auch die Linke ins Boot holen wollte, weil die SVP sich in der Europapolitik im Réduit verschanzt hat.
Es ist die traditionelle europapolitische Allianz: Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, CVP, SP, FDP. Wir mussten auch die Lehren ziehen aus der Masseneinwanderungsinitiative 2014, als es fast zu einem offenen Bruch zwischen den Sozialpartnern kam. Beide Seiten dachten, die Initiative werde abgelehnt, wenn auch knapp. Deshalb ging man das Risiko ein, sich nicht zu verständigen. Mit dem Rahmenabkommen 2018 wurde dieser Bruch noch stärker. Es kam zu einem Vertrauensverlust der Gewerkschaften gegenüber dem Bundesrat. Deshalb war es wichtig, alle an einen Tisch zu holen und sich zu einigen.
Sie haben seit Ihrem Amtsantritt betont, dass die Personenfreizügigkeit nicht nur Vorteile hat. Ist dies eine Art der offenen Kommunikation, die früher gefehlt hat?
Ich möchte das nicht beurteilen. Das ist meine persönliche Haltung. Ich glaube, es ist ehrlicher und glaubwürdiger, wenn man sagt, was Sache ist. Die Bevölkerung empfindet die Freizügigkeit nicht nur als Vorteil. Wenn man sie aber mit dem früheren Einwanderungssystem vergleicht, hat sich die Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung massgeblich verändert. Die grössten Gruppen sind Deutsche, Franzosen und Italiener, die unsere Landessprachen sprechen. Mit den früheren Systemen hatten wir viele gering qualifizierte Leute rekrutiert, die sprachliche Schwierigkeiten hatten und in der ersten Generation nicht aufsteigen konnten. Doch ihre Kinder sind heute zum Teil an den Hochschulen.
Das ist die Vergangenheit. Wie aber sieht es mit der Zukunft aus, sprich mit dem Rahmenabkommen?
Bei einem Ja braucht es auch kein Rahmenabkommen. Aber man muss die beiden Vorlagen getrennt betrachten. Jetzt geht es um die Sicherung dessen, was wir haben. Mit dem Rahmenabkommen wollen wir allenfalls weitere Verträge abschliessen und den bilateralen Weg entwickeln. Der Bundesrat hat es nicht unterzeichnet, weil er in drei Bereichen Nachbesserungsbedarf sieht: Beim Lohnschutz, der Unionsbürgerrichtlinie und den staatlichen Beihilfen. Ein Nein zur BGI ist nicht ein Ja zum Rahmenabkommen. Bei den drei Fragen gibt es schon noch erhebliche Differenzen.
Mit der Coronakrise haben wir beim Rahmenabkommen Zeit gewonnen, aber irgendwann wird der Druck aus Brüssel wieder zunehmen.
Wir dürfen uns davon nicht nervös machen lassen. Wenn die Abstimmung gemäss Bundesrat und Parlament ausgeht, müssen wir uns mit den Sozialpartnern und den Kantonen wieder an die Arbeit machen. Aber ich will keinen Zeithorizont nennen. Wir haben oft genug den Fehler gemacht, Fristen oder Zeitpläne vorzugeben. Das Rahmenabkommen ist nur dann mehrheitsfähig, wenn wir innenpolitisch eine gemeinsame Position finden.
Dies lässt sich auch als Vorwurf an die SVP interpretieren. Indem sie eine einjährige Verhandlungsfrist vorgibt, versetzt sie die Schweiz unter Zugzwang.
Die EU weiss, dass wir das Freizügigkeitsabkommen kündigen müssen. Die Initiative auferlegt dem Bundesrat eine einseitige Verhandlungspflicht. Diese gilt für die Gegenseite nicht. Ich wurde mit der Aussage zitiert, die Begrenzungsinitiative sei schlimmer als der Brexit. Denn der Lissaboner Vertrag sieht beim Austritt eines Staates aus der EU eine zweijährige gegenseitige Verhandlungspflicht vor, die man verlängern kann. Die Verhandlungen über den Brexit laufen seit vier Jahren und man hat noch keine endgültige Lösung gefunden.
Bei der Masseneinwanderungsinitiative hat die SVP eine Frist von drei Jahren vorgegeben, ohne dass die EU sich bewegt hat.
Der Bundesrat hatte das Verhandlungsmandat verabschiedet, aber die Türen blieben einfach zu. Es hat nie Verhandlungen gegeben. Das Parlament hat deshalb die Initiative nur sehr rudimentär umgesetzt, um den bilateralen Weg nicht zu gefährden. Jetzt ist der Fall klar, die Initianten verlangen die Kündigung der Personenfreizügigkeit.
Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung. In den nächsten Monaten folgen zwei weitere grosse Brocken aus Ihrem Departement, die Konzernverantwortungsinitiative und die E-ID. Sind Sie immer noch gerne Justizministerin?
(lacht) Ich habe mit einer anderen europapolitischen Abstimmung begonnen, über die Waffenrichtlinie. Zu Beginn dieses Jahres folgte die Abstimmung über den Schutz der Homosexuellen vor Hass und Hetze. Ich mache das sehr gerne, aber es ist anspruchsvoll, denn die Fragen sind nicht belanglos. Die Begrenzungsinitiative ist zentral für den Standort Schweiz.
Nur zwei Monate später folgt die Konzernverantwortungsinitiative, bei der Sie mit einem sehr engagierten und entschlossenen Komitee zu tun bekommen.
Das trifft zu, die Gegenseite hat einen gewissen Nachholbedarf. Ursprünglich war der Bundesrat gegen die Initiative und er wollte auch keinen Gegenvorschlag. Nach einer Parlamentsdebatte sagte ich mir: So geht das nicht. Ich war überzeugt, dass es einen Gegenvorschlag braucht, aber jener des Parlaments war eine faktische Umsetzung der Initiative. Deshalb hat der Bundesrat anerkannt, dass Handlungsbedarf im Bereich Umweltschutz und bei der Beachtung der Menschenrechte besteht, aber wir machen das, was im Ausland auch gemacht wird, um den Standort Schweiz nicht zu schwächen.
Genügt dies bei einem derart emotionalen Thema?
Wir müssen einerseits erklären, warum die Initiative über das Ziel hinaus schiesst und zu extrem ist, und auf der anderen Seite den indirekten Gegenvorschlag bekannt machen, der international abgestimmt ist, Massnahmen vorsieht, aber eben eingebettet ist in die internationale Entwicklung.
Im Herbst werden Grossveranstaltungen wieder möglich sein, etwa grosse Podien in Mehrzweckhallen oder ein Fussballmatch. Worauf freuen Sie sich am meisten?
Der Abstimmungskampf zur Konzernverantwortung lässt mir vermutlich nicht viel Zeit für andere Veranstaltungen. Es braucht auch eine gewisse Zurückhaltung. Ich gönne es allen, die sehnlichst auf einen Match oder eine kulturelle Veranstaltung gewartet haben. Man kann nicht die Leute einsperren und unendlich Staatshilfe geben, sondern wir müssen den Leuten jetzt wieder auf die Beine helfen. Und es ist auch eine wirtschaftliche Überlebensfrage. Aber die Pandemie ist immer noch da, wir müssen mit ihr leben.
Vor ziemlich genau einem halben Jahr hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage beschlossen. Wie lautet ihr Fazit zum bisherigen Verlauf der Coronakrise?
Dafür ist es vielleicht etwas früh. Wenn ich die Schweiz mit umliegenden Ländern vergleiche, habe ich den Eindruck, wir stehen nicht so schlecht da. In den Spitälern sind genügend Kapazitäten vorhanden. Im Frühjahr wussten wir nicht, wie sich die Lage auf den Intensivstationen entwickelt. Wir haben sicher auch Fehler gemacht …
… haben Sie ein Beispiel?
Wir sind jetzt an der Auswertung. Ein definitives Fazit wird erst möglich sein, wenn alles vorbei ist. Aber wir stehen bei den Fallzahlen und wirtschaftlich nicht so schlecht da. Natürlich haben wir eine Rezession, aber der Konsum ist robust. Grosse Probleme hat die Exportwirtschaft. Das ist ein weiterer Grund, die Begrenzungsinitiative abzulehnen. Wir können nicht auf eine Krise eine weitere Krise draufsetzen. Aber ich gebe zu, es war als Bundesrätin manchmal schon sehr schwierig.
Inwiefern?
Man sitzt da und fragt sich: Was machen wir eigentlich mit diesem Land? Wir verbieten dieses und machen jenes zu. Ist das wirklich richtig? Ich habe diese Verantwortung mit Haut und Haaren gespürt. Auf der anderen Seite konnten wir wohl nichts anderes machen, als alles herunterzufahren. Heute wissen wir etwas mehr über das Virus, aber längst nicht alles.
Sie wollen keinen zweiten Lockdown oder Shutdown?
Das kommt für mich nicht in Frage. Das würden auch die Menschen nicht mehr mittragen. Im Frühjahr hatten wir alle die Bilder aus Italien vor Augen, die Särge auf den Lastwagen. Wir haben es geschafft, die älteren und besonders verletzlichen Menschen zu schützen und die nötigen Kapazitäten in den Spitälern zu schaffen. Wir mussten Wahleingriffe verbieten, weil teilweise die gleichen Medikamente gebraucht worden wären. Das waren auch ethisch schwierige Fragen. Gewisse Leute sagten, die Älteren sterben ja sowieso. So kann der Bundesrat nicht denken. Der Bundesrat hat eine Verantwortung für alle Menschen im Land, er muss alle schützen.
Hat sich der Zusammenhalt der Gesellschaft in dieser Krise verändert?
Ich denke nicht. Es hat sich gezeigt, dass die Strukturen in diesem Land funktionieren und man sich gegenseitig unterstützt. Ich habe das in meinem eigenen Umfeld erlebt. Mich hat gefreut, dass dies sichtbar wurde. Jetzt freue ich mich aber, dass wir uns wieder sehen und treffen können. Denn: Beziehungen, Freundschaften und die Familie sind vermutlich das Wichtigste im Leben.
Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Fassung hiess es, nächstes Jahr würden 800'000 Leute infolge Pensionierung aus dem Arbeitsmarkt austreten. Gemeint sind jedoch die nächsten zehn Jahre.
Und statt zu schauen, dass Kinder in der Schweiz wieder finanzierbar werden ohne das beide Elternteile arbeiten müssen, holt man die Arbeitskräfte dann lieber im Ausland.