Vier Jahre hatte Pierin Vincenz geschwiegen. Nach seiner Festnahme Ende Februar 2018 und der mehr als 100-tägigen Untersuchungshaft war der ehemalige Raiffeisen-CEO von der Bildfläche verschwunden. Zum Prozessauftakt erschien der 65-jährige Bündner nicht etwa geknickt oder gebrochen, sondern wie man ihn stets kannte: jovial und guter Dinge.
Die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich verfolgt Vincenz konzentriert, auf dem Pult eine Flasche seines Lieblingsgetränks Cola Zero. Die Staatsanwaltschaft fordert für ihn und den anderen Hauptbeschuldigten Beat Stocker je sechs Jahre Gefängnis. Vincenz soll 9 Millionen Franken zurückzahlen, Stocker sogar 16 Millionen. Es steht viel auf dem Spiel.
Am Mittwoch fand im Zürcher Volkshaus der fünfte Verhandlungstag im Mammutverfahren statt. Vier weitere sind im März traktandiert. Die grössten «Brocken» aber sind durch: Die Beschuldigten wurden vom dreiköpfigen Gericht befragt, die Staatsanwälte sowie die Verteidiger von Vincenz und Stocker haben ihre mehrstündigen Plädoyers gehalten.
Zeit also für ein erstes Fazit: Bei den Spesen dürfte es Pierin Vincenz nicht leicht haben. Fast 600’000 Franken hatte er der Raiffeisen für Aktivitäten verrechnet, die nach Ansicht der Anklage seinem privaten Vergnügen dienten. Genüsslich schilderte der zuständige Staatsanwalt die «Tour de Suisse durchs Rotlichtmilieu», inklusive bezahltem Sex.
In der Befragung tat sich Pierin Vincenz mit der Rechtfertigung hörbar schwer, genau wie für die teuren Reisen zum Golfspiel, mit den beiden Töchtern oder seinem Kochclub. Sein Verteidiger, Staranwalt Lorenz Erni, plädierte zu den Spesen auffällig kurz. Klar ist: Die Kontrollen bei Raiffeisen hatten versagt, doch das ist kein Freipass für eventuelle Straftaten.
Vor höheren Hürden steht die Anklage beim weitaus grösseren Komplex, der Übernahme von vier Firmen durch Raiffeisen und den Finanzdienstleister Aduno. Er ist im Geschäft mit Kreditkarten tätig und heisst seit 2020 Viseca. Pierin Vincenz und Beat Stocker sollen von heimlichen Beteiligungen profitiert und 25 Millionen Franken kassiert haben.
Für die Staatsanwaltschaft war der frühere Aduno-CEO Stocker dabei der «Mastermind», der sich unter anderem Vincenz’ Beziehungsnetz bedient hatte. Mit beträchtlichem Aufwand versuchte die Anklage zu beweisen, dass die beiden Protagonisten sich unter anderem des gewerbsmässigen Betrugs und der passiven Bestechung schuldig gemacht haben.
Die Verteidiger Lorenz Erni und Andreas Blattmann allerdings liessen sich nicht lumpen und schossen aus vollen Rohren zurück. Bis ins kleinste Detail bemühten sie sich, die Anklage zu zerpflücken. Für den Beobachter ist es nicht einfach, die komplexe Materie zu beurteilen. Man wird den Verdacht aber nicht los, dass die Staatsanwaltschaft sehr hoch pokert.
Am Ende wird das Gericht urteilen, und für Vincenz, Stocker und die fünf Mitangeklagten gilt die Unschuldsvermutung. Unabhängig von der Schuldfrage aber wirft der Raiffeisen-Prozess ein schiefes Licht auf jenen Teil der Schweizer Wirtschaft, der in Sonntagsreden gerne hervorgehoben wird: kleine und mittlere Unternehmen (KMU).
Das Verfahren spielt sich in diesem Bereich ab. Auch Raiffeisen ist eine KMU-Bank, mag sie inzwischen auch als systemrelevant eingestuft sein. Die Beteiligten waren vor dem Prozess mit Ausnahme von Vincenz der breiten Öffentlichkeit kein Begriff. Die Verteidiger betonten dies teilweise explizit, um eine Namensnennung zu verhindern.
Ihr Auftreten vor Gericht spricht ebenfalls Bände. Natürlich bezeichneten sich alle als unschuldig, aber der Prozessbeobachter konstatierte auch eine Fassungslosigkeit darüber, dass sie überhaupt angeklagt wurden und vor den Zürcher Richtern erscheinen mussten. Der aus Genf angereiste Mitbeschuldigte wirkte regelrecht erbost.
Man könnte ihre Auftritte so umschreiben: Warum wir? Das machen doch alle so.
Das mag polemisch wirken und unfair gegenüber den «ehrlichen» KMU-Exponenten. Und doch vermittelt die Anklage den Eindruck, dass auch in der KMU-Schweiz einiges aus dem Ruder gelaufen ist. Das begann schon, als Pierin Vincenz sich als bodenständiger «Volksbanker» feiern liess und gleichzeitig einen «Goldküsten-Lebensstil» praktizierte.
Obwohl er allein zwischen 2005 und 2015 mehr als 38 Millionen Franken (netto) bezogen hatte, war er regelmässig klamm und versuchte deshalb, «sein Vermögen auf Kosten von Raiffeisen zu schonen», so der Vorwurf der Staatsanwälte. Deshalb sei er auch bereit gewesen, sich auf die «schattigen» Beteiligungen von Beat Stocker einzulassen.
Der Fall Vincenz führe «in die Abgründe der KMU-Elite», schrieb die NZZ. Er sei die teilweise groteske Karikatur der «Mischlerschweiz». Diese ist von Kartellen und einer «Söihäfeli Söideckeli»-Mentalität geprägt. Der Begriff Karikatur ist dennoch verharmlosend, denn letztlich geht es um eine Abzockerei, die man bislang fast nur von den «Grossen» kannte.
Damit wird es politisch, denn die Exzesse bei den Grossbanken und anderen multinationalen Konzernen haben dazu geführt, dass die Zeiten vorbei sind, in denen das Stimmvolk fast blindlings den Vorgaben der Wirtschaftsverbände folgte. In den letzten Jahren mussten sie bei Volksabstimmungen empfindliche Niederlagen einstecken.
Das gilt für das sehr deutliche Ja zur Abzocker-Initiative genauso wie für das Scheitern der Unternehmenssteuerreform III, die eigentlich nur von links bekämpft wurde. Für die Annahme im zweiten Anlauf brauchte es ein «Päckli» mit einer Zusatzfinanzierung für die AHV. Die Konzernverantwortungsinitiative wurde nur wegen des Ständemehrs abgelehnt.
Das nächste Debakel droht am Sonntag bei der geplanten Abschaffung der Emissionsabgabe, auch bekannt als Stempelsteuer. Es handelt sich zumindest auf dem Papier um eine relativ moderate und vielleicht sogar vernünftige Massnahme. Auch sie wird nur von links bekämpft, und trotzdem deuten die Umfragen auf eine Niederlage hin.
Für den Vertrauensverlust der Schweizer Bevölkerung in die Wirtschaft gibt es verschiedene Gründe. Wenn die bürgerlichen Parteien und Verbandsvertreter jedoch am Sonntag zum Wehklagen ansetzen, sollten sie den Raiffeisen-Prozess im Hinterkopf haben. Er bringt die KMU-Schweiz in Verruf, auf die sich ihre Ja-Kampagne fokussiert hat.
Typisch Schweiz halt (...)
Sie mag „technisch“ nicht (mehr) korrekt sein, doch solange dafür keine andere Steuer erhöht / erhoben wird, die dieselben trifft, bin ich dagegen…