«Entschuldigen Sie, ich muss mich zuerst wieder ein bisschen fangen», sagt mir Eva Koralnik mit feuchten Augen. Rasch dreht sich die 81-Jährige um und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Der Grund für ihre Emotionen: Ein zehnminütiges Video einer Holocaust-Zeugin, die erzählt, wie sie nur knapp dem Tod entrann.
Die Geschichte, die sie eben als Video gesehen hat, ist auch ihre Geschichte.
Auch Eva Koralnik ist nur dank der Flucht in die Schweiz Hitlers Schergen entkommen (siehe Videos am Ende des Interviews). Ihr Schicksal und das zahlreicher anderer Schweizer Holocaust-Zeitzeugen sind zurzeit in der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» im Archiv für Zeitgeschichte an der ETH zu sehen. Mit Koralnik sprach ich über den Vormarsch des Populismus in Europa, über das Glücklichsein und ihre grösste Angst.
Frau Koralnik, sind Sie glücklich?
Glücklich ist ein weiter Begriff – ich bin vielleicht im Laufe der Jahre eine glücklichere Person geworden, als ich es in meiner Kindheit und Jugend war. Es ist eher ein stilles Glück oder auch Dankbarkeit – ich habe eine Familie, Kinder, Enkelkinder, ich hatte einen Beruf, der mich ausfüllte – irgendwann findet man einen Weg zurück in die Normalität.
Haben Sie sich jemals gefragt: «Wieso gerade ich, wieso habe ich überlebt»?
Ja, das fragt man sich immer und immer wieder. Ich weiss es nicht. Wir hatten grosses Glück, dass uns nicht das Schicksal ereilte, das sechs Millionen Juden traf. Für dieses Schicksal wären wir prädestiniert gewesen. Jeder Überlebende dieser Zeit hat – so glaube ich – sein Leben einem Zufall zu verdanken.
1944 flohen Sie aus Ungarn über Wien in die Schweiz. Ein Jahr vor Kriegsende. Können Sie sich an 1945 und das Ende des Krieges noch erinnern?
Ich war damals in der zweiten Primarklasse in St.Gallen. An den 9. Mai 1945 kann ich mich noch genau erinnern: Das wurde in der ganzen Schule gross gefeiert – der Slogan hiess «Nie wieder!».
«Nie wieder!» – das tönt aus heutiger Sicht fast wie ein Hohn. 72 Jahre nach Kriegsende und einige Kriege später befinden wir uns in einem Europa, in dem der Wunsch nach Abschottung und Ausgrenzung an vielen Orten immer lauter wird – Stichwort Brexit oder Front National, um nur zwei zu nennen ...
Natürlich spüre ich das. Das idealistische Streben nach einem gesamtheitlichen Europa scheint in die Ferne gerückt – die Eigeninteressen der Länder, der Regionen sind leider zu ausgeprägt. Heute will beispielsweise eine Marine Le Pen genau das Gegenteil. Und sie hat viele Sympathisanten in ganz Europa, das muss man schon sehen. Die Wunschvorstellung, wie wir sie von einem starken Europa hatten, rückt immer weiter in die Ferne.
Auch der Populismus hat viel Aufschwung erhalten. Im November wurde Donald Trump ziemlich überraschend zum US-Präsidenten gewählt. Vor mehr als 90 Jahren verhalf der Populismus auch Hitler zum Sieg ...
Ich will nicht den schrecklichen Vergleich zwischen Hitler und Trump ziehen. Doch zu Beginn des amerikanischen Wahlkampfs hat sich alle Welt über Donald Trump lustig gemacht. Keiner hat auch nur im Traum daran gedacht, dass Trump es tatsächlich zum Präsidenten schaffen würde. Ich war mir da gar nicht so sicher. Bei den Deutschen damals war es ähnlich. Viele Juden und Demokraten haben sich über Hitler lustig gemacht. «Dieser Anstreicher wird es doch nicht schaffen», hiess es – und es hat sich zweimal gezeigt, dass es dennoch möglich ist: 1933 mit Hitler, 2017 mit Donald Trump.
Bereitet Ihnen das Sorge?
Trump ist jetzt Präsident und man muss ihn ernst nehmen. Der grosse Unterschied zu heute ist aber, dass Amerika eine Demokratie ist. Und ich vertraue darauf, dass Demokratien genügend stark sind, um ein Programm, das die Ausrottung einer Volksgruppe zum Ziel hätte, verhindern zu können.
Der Autor und Auschwitz-Überlebende Primo Levi sagte angesichts der Tragödie des Holocausts: «Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.» Kann sich die Geschichte in dieser Form wiederholen?
Es ist ein riesiger Unterschied, eine Mauer zu errichten oder zu befehlen, eine ganze Bevölkerungsgruppe auszurotten – letzteres glaube und hoffe ich, kann so nicht mehr passieren.
Was macht Ihnen in der heutigen Zeit Angst?
Jede Art von Extremismus, die dazu führt, dass Menschen blind werden und das eigene Menschsein vergessen.
Es gibt viele Jugendliche, die sich der Gruppierung des sogenannten «Islamischen Staates» hingezogen fühlen, sich ihr anschliessen. Wie erklären Sie sich ein solches Verhalten?
Darüber wurde schon so viel spekuliert. Für mich ist es unerklärlich. Ich kann nur grobe Vermutungen anstellen. Vielleicht ist es ein Bedürfnis nach Abenteuer, das in der heutigen westlichen Welt nicht mehr gestillt werden kann. Vielleicht sind die Jugendlichen so gesättigt oder nach Inhalten hungrig oder von unserer Gesellschaft nicht ernst genommen, dass sie blind diesem Negativismus verfallen. Wenn der Tod als höchstes Gut versprochen wird, ist das sehr schlimm. Ich kann nicht verstehen, inwiefern ein junger Mensch seine Erfüllung darin sieht, sich selbst und andere um einer Religion willen in die Luft zu sprengen. Etwas, das in meinen Augen keinen Sinn ergibt.
Sie gehören zu den letzten Holocaust-Überlebenden. Was wollen Sie diesen Jugendlichen und auch zukünftigen Generationen mitgeben?
In erster Linie appelliere ich an die Menschlichkeit. Natürlich, der Begriff Menschlichkeit ist gross und kaum fassbar. Und wenn Ideale zu gross sind, kann man sie nie erreichen. Menschlichkeit beginnt meiner Meinung nach aber im ganz Kleinen – auf jeder Ebene und in jeder Situation kann sie erprobt werden – durch Rücksicht, Hilfsbereitschaft, Verständnis …
Was darf nie in Vergessenheit geraten und was darf nie wieder geschehen?
Ich glaube, es darf nie vergessen werden, wie viele Personen im Zweiten Weltkrieg ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben, um anderen Menschen zu helfen. Bis heute frage ich mich: Hätte auch ich, wäre ich in der konträren Situation gewesen, Menschen in Gefahr geholfen? Wäre ich bereit gewesen, mein eigenes Leben, ja vielleicht auch das meiner Familie zu opfern, um nur einer einzigen Person zu helfen? Das ist und bleibt, wie man so schön sagt, eine «crucial question» ...