Sag das doch deinen Freunden!
Seit Ihrem Auftritt in der SRF-Doku «Zum Beispiel Neftenbach – die Flüchtlinge und wir» kennt man Sie. Warum mögen die Schweizer die Art und Weise, wie Sie mit Flüchtlingen umgehen?
Urs Wuffli: Nach der Sendung haben mich viele Kollegen, die direkt mit Flüchtlingen arbeiten, angeschrieben. Ich glaube, sie fühlten sich durch den TV-Bericht verstanden. Sie liessen mich wissen, dass sie mit den genau gleichen Problemen kämpfen mit den Flüchtlingen wie ich. Unzuverlässigkeit zum Beispiel oder Unpünktlichkeit. Sie würden dank dem Film wieder mehr Energie, mehr Kraft haben und die ganze Belastung besser ertragen.
Was machen Sie besser oder anders als andere Sozialvorsteher?
Mein Motto ist: Flüchtlinge kann man nicht vom Schreibtisch aus betreuen. Ich denke, das trifft den Nerv, weil in vielen Gemeinden – auch aus Mangel an Zeit – die Flüchtlinge aus dem Büro heraus verwaltet werden. Sieht man nicht, wie die Flüchtlinge bei uns Leben, weiss man nicht, wo ihre Defizite sind.
Wo sind denn Ihre Defizite?
Als ich angefangen habe, die Flüchtlinge in ihren Wohnungen zu besuchen, habe ich gesehen, dass bei praktisch allen der Fernseher 24 Stunden läuft, Spielzeuge gab es dafür keine. Das einzige, womit die Flüchtlingskinder spielten, waren Handys.
Was haben Sie unternommen?
Ich mache Ihnen ein Beispiel. Wir hatten bei uns in der Gemeinde ein syrisches Paar mit Zwillingen, die damals zweijährig waren. Bei meinem zweiten Besuch brachte ich kleine Spielzeugautos mit. Ich gab sie den Kindern. Diese warfen die Autöli sofort umher, weil sie halt einfach nicht wussten, was sie damit anfangen sollen. Ich kniete mich zu den Kindern herunter und zeigte ihnen, wie man auf allen Vieren Autöli spielt. Innert kürzester Zeit sassen alle auf dem Boden und spielten. Den Fernseher beachtete niemand mehr.
Was bringt es, wenn ...
... ich möchte Ihnen noch rasch ein zweites Beispiel machen: Eine Frau aus Eritrea hatte für ihre Wohnung immer relativ hohe Reparaturkosten. Deshalb besuchte ich sie. Ich wusste, dass der Rolladen und die Sonnenstore kaputt waren. Im Gespräch fand ich heraus, dass sie die Läden immer von Hand herunterriss. Funktionierten diese nicht mehr, liess sie die Store herunter. Beim nächsten Sturm war auch diese kaputt. Die Frau wusste schlicht nicht, dass sie die Rollladenkurbel verwenden sollte. Ich lernte daraus, dass wir Flüchtlinge besser einführen müssen, bevor sie ihre Wohnungen beziehen.
Sie erkennen also die Probleme, wenn Sie zu den Flüchtlingen gehen. Inwiefern hilft das bei Ihrer Integration?
Ich mache das Ganze nicht, weil ich es so wahnsinnig lustig finde. Mein Ziel ist es, dabei die Sonderschulkosten zu reduzieren. Wir haben sehr hohe in Neftenbach. Ein Kind, das die normale Schule durchlaufen will, muss sich schon lange vor dem Kindergarten beträchtliche Kompetenzen aneignen. Wächst ein Kind auf, ohne je eine Schere in der Hand gehabt zu haben, noch nie mit einem Stift gemalt zu haben, noch nie Bauklötze aufeinander gestellt zu haben, dann kommt es mit gewaltigen Defiziten in den Kindergarten. Dieses Defizit zieht sich dann durch die ganze Schulzeit und das ist für uns als Gemeinde teuer. Deshalb beginnen wir früh mit Integrieren, schicken die Flüchtlingskinder bereits in die Krabbelgruppe oder ins Muki-Turnen.
Wie viele Flüchtlingskinder leben momentan in Neftenbach?
Wir haben aktuell zwölf Kinder im Kindergartenalter oder jünger. Insgesamt leben in unserer 5500-Seelen-Gemeinde 55 Flüchtlinge. Ein Mädchen kam vor 18 Monaten zu uns – mit logischerweise kleinen Kompetenzen. Wir förderten sie früh, heute geht sie problemlos in den Kindergarten.
Was sind die Folgen, wenn zu spät integriert wird?
Flüchtlinge, die neu zu uns kommen, die leben zurückgezogen in ihrer eigenen Welt, ohne Kontakt nach aussen. Tut man nichts dagegen, kann dies auch in der Schweiz zu Parallelgesellschaften führen. Das ist schlecht, wie das Problemquartier Molenbeek in der belgischen Hauptstadt Brüssel zeigt. Integrieren fängt für mich deshalb beim Kinderspielzeug an, danach kommt rasch einmal die Sprache. Wer die Landessprache nicht beherrscht, kann sich nicht integrieren. Und das muss unser Ziel sein. Wenn wir das, sagen wir einmal bei einem Jugendlichen, nicht schaffen, kommt er mit 20 Jahren in die Sozialhilfe. Bleibt er dort bis zur AHV, kostet das die Gemeinde weit über eine Million. Je besser wir Flüchtlinge integrieren, desto weniger Probleme haben wir und desto weniger kosten sie uns.
Bleiben wir rasch bei den Kosten. Wie viel muss ein Flüchtling verdienen, dass er ohne Sozialhilfe auskommt?
Eine Einzelperson hat einen Grundbedarf von 986 Franken, dazu kommt die Miete. Weil es sehr schwierig ist, für Flüchtlinge Wohnungen zu finden, rechnen wir dafür mit etwa 1000 Franken. Dazu kommen Kosten wie Zahnarzt, Franchise und die AHV. Insgesamt sind wir da rasch auf einem Betrag von 2600 Franken. Ein einzelner Flüchtling muss zwischen 2700 und 3000 Franken verdienen, damit er ohne Sozialhilfe auskommt. Das ist machbar.
Wie sieht es bei einer Familie aus?
Bis eine Familie nicht mehr abhängig von der Sozialhilfe ist, müssen zwischen 5500 und 6000 Franken reinkommen. Das ist schwierig. Flüchtlingseltern verdienen ja nicht mehr und schaffen es eher selten, richtig gut bezahlte Jobs zu bekommen. Das gelingt nur den fleissigsten.
Belohnt unser System die Fleissigsten?
Leider nicht. Und das ist ein wichtiger Punkt. Das fängt schon beim Deutschkurs an. Gewisse Flüchtlinge hängen sich richtig rein und lernen innert kürzester Zeit unsere Sprache. Andere fehlen ständig, sind unpünktlich und kommen überhaupt nicht vom Fleck. Beide erhalten aber ganz genau gleich viel Sozialhilfe. Das finde ich falsch.
Was wäre besser?
Wir müssten viel mehr mit Anreizen arbeiten. So, dass die Flüchtlinge wissen; sie bekommen mehr, wenn sie mehr tun. Man könnte den Faulen beispielsweise die Integrationszulage streichen, wenn sie ihre Leistungen nicht bringen. Heute erhalten sie die Zulage, egal ob sie sich anstrengen oder nicht. Das darf es doch nicht sein. Ich würde lieber die, die Gas geben, mit mehr Geldern fördern, statt allen gleichviel zu geben. Ab einem gewissen Punkt darf man ruhig eine gewisse Leistung fordern. Ich wünsche mir ein System, das die Fleissigen belohnt.
Hat ein solches Anreizsystem in der Schweiz eine Chance?
Nein. Das System «Fördern und Fordern» wird in der Schweiz wohl nie umgesetzt werden können. Das Thema Flüchtlinge ist viel zu «verpolitisiert». Die Rechten sagen: «Fördern, wofür?», die Flüchtlinge sollen gefälligst selber Kurse und Ähnliches bezahlen. Und die Linken sagen, man dürfe die armen Flüchtlinge doch nicht noch fordern, und sind dagegen. So kommen wir schlicht nicht weiter. Ich höre Beispiele von anderen Sozialbehörden, die mit Flüchtlingen arbeiten müssen, die sich weigern, zu arbeiten, die Sprache nicht lernen und sehr unzuverlässig sind. Mit dem jetzigen System passiert solch renitenten Flüchtlingen nichts, man kann ihnen kaum oder nur geringfügig Beträge kürzen und sie werden sich nie wirklich integrieren.
Das Thema Flüchtlinge und die damit zusammenhängende Integration werden uns noch lange begleiten. «Wir schaffen das», sagte Angela Merkel. Wie sieht es bei uns aus?
Merkel wird diese Aussage mittlerweile bereuen. Deutschland
darf aber nicht mit der Schweiz verglichen werden. Objektiv gesehen werden in der Schweiz etwa 50 Prozent der Flüchtlinge die Integration schaffen. Wollen wir diese Prozentzahl erhöhen, müssen wir noch mehr dafür tun. Wir müssen die Flüchtlinge unter die Leute bringen, in die Fussballclubs, zum Räbenliechtliumzug, an die Fastnacht. Dahin müssen wir sie aber begleiten, sonst klappt das nie. Deshalb sind wir alle gefordert.
Sie sind seit etwas über zwei Jahren Sozialvorsteher von Neftenbach. Was haben Sie bei der Arbeit mit den Flüchtlingen gelernt?
Die Gastfreundschaft von Flüchtlingen überrascht mich immer wieder. Davon können wir uns ein Stück abschneiden.