Die Direktiven des Bundesgerichts an das Urner Obergericht im Fall Ignaz Walker waren unmissverständlich: Es muss «alles in seiner Macht stehende» unternehmen, um den Hauptbelastungszeugen, Johannes Peeters, zu finden und vor Gericht zu befragen. Gelungen ist das indes nicht. Dabei hätte die Urner Staatsanwaltschaft sehr wohl gewusst, wo man Peeters hätte finden können, wie Recherchen der «Rundschau» zeigten: Die Staatsanwaltschaft Uri leistet im Sommer 2013 den französischen Behörden nämlich Rechtshilfe in einem Verfahren gegen Peeters.
Oberstaatsanwalt Thomas Imholz bestätigte am Montag vor Gericht die Rechtshilfeleistung von 2013. Es sei aber nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, den Zeugen zu suchen; als Verfahrenspartei sei man nicht zur Mitwirkung verpflichtet gewesen. Dies im Gegensatz zur Verteidigung, die ja schliesslich den Antrag gestellt hatte, Peeters vor Gericht zu laden. Imholz hätte dem Gericht also durchaus Hinweise geben können, wo man Peeters finden könnte, behielt diese Informationen aber zurück, weil er sich für nicht zuständig hielt, dies dem Obergericht zu melden.
Ist das zulässig? Trifft die Staatsanwaltschaft tatsächlich keine Mitwirkungspflicht mehr, sobald sie Anklage erhoben und damit Verfahrenspartei ist? Wir haben bei vier Experten nachgefragt:
Eine förmliche Mitwirkungspflicht gebe es zwar nicht, hält Rechtsanwalt Konrad Jeker fest. Diese lasse sich aber aus der Strafprozessordnung (StPO) ableiten. Darin sei festgehalten, dass die Staatsanwaltschaft für die gleichmässige Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verantwortlich sei. «Daraus würde ich schliessen, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, der Verfahrensleitung des Gericht den ihr bekannten Aufenthaltsort des Zeugen mitzuteilen.»
Ich bin gerade verwirrt: Gilt StPO 302 I im Kanton Uri nicht? https://t.co/CXAVewgyTJ https://t.co/tOT4Qdv4OC pic.twitter.com/vvsViCP8qc
— Martin Steiger (@martinsteiger) 26. Oktober 2015
Ausserdem sei die Staatsanwaltschaft gemäss Artikel 4 der StPO unabhängig, nur dem Recht verpflichtet und müsse insbesondere auch entlastenden Tatsachen nachgehen, wie Artikel 6 der StPO besage. «Die Staatsanwaltschaft kann sich somit nicht darauf zurückziehen, bloss Partei zu sein und nicht mitwirken zu müssen.» Jeker hält das Verhalten von Oberstaatsanwalt Imholz deshalb für fragwürdig. «Es ruft geradezu nach der Einleitung eines Disziplinarverfahrens, allenfalls sogar eines Strafverfahrens.»
Auch Rechtsanwalt Marc Engler beruft sich auf die entsprechenden Bestimmungen in der Strafprozessordnung. «Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und auch die Gerichte müssen sich in allen Verfahrensstadien an gewisse Grundsätze halten», so Engler. Er verweist auf den Grundsatz von Treu und Glauben sowie die Pflicht von Strafbehörden, den belastenden und entlastenden Tatsachen gleichermassen nachzugehen. «Bereits aus diesen Bestimmungen folgt meines Erachtens eine klare Pflicht der Staatsanwaltschaft, die ihr vorliegenden Informationen zur Auffindung des Zeugen dem Gericht selbst ohne entsprechende Aufforderung von sich aus mitzuteilen.»
Die Verfahrensleitung lag nach Anklageerhebung beim Gericht, weshalb die Staatsanwaltschaft Uri nicht mehr selber hätte ermitteln dürfen, ausser das Gericht hätte sie dazu ermächtigt oder beauftragt. Die Staatsanwaltschaft, so Engler, hätte aber dem Gericht die Informationen geben müssen, damit dieses selber hätte bei den französischen Behörden vorstellig werden oder den Staatsanwalt damit beauftragen können. «Rechtshilfe funktioniert mit Frankreich relativ gut», hält Engler weiter fest. «Man hätte hier sicher eine Lösung gefunden, immerhin ging es zuvor umgekehrt ja auch.»
Matthias Fricker, Fachanwalt SAV Strafrecht, hält auch nicht viel von der Erklärung von Oberstaatsanwalt Imholz. Er verweist ebenfalls auf Artikel 6 der Schweizerischen Strafprozessordnung, demzufolge Strafbehörden – dazu gehören sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft – die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt zu untersuchen haben. «Diese Regelung gilt meines Erachtens für sämtliche Strafbehörden während der gesamten Dauer des Verfahrens», so Fricker.
Gemäss Artikel 3 hätten die Strafbehörden in allen Verfahrensstadien den Grundsatz von Treu und Glauben zu beachten. «Das hat die Staatsanwaltschaft vorliegend meines Erachtens klar nicht getan.» Für Fricker ist klar: Wenn die Staatsanwaltschaft Hinweise auf den Aufenthaltsort hatte, so hätte sie zumindest diese Hinweise an das Gericht weiter geben müssen. Wenn es die Staatsanwaltschaft hingegen unterlasse, das Gericht über den Aufenthaltsort des Kronzeugen zu informieren, riskiere sie die Unverwertbarkeit von dessen Aussagen.
Martin Killias, ständiger Gastprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen, relativiert. Zwar sei die Staatsanwaltschaft verpflichtet, auch Entlastendem nachzugehen. Ab dem Zeitpunkt der Anklageerhebung treffe sie jedoch nur noch eine eingeschränkte Kooperationspflicht. Dies habe mit der neuen Strafprozessordnung zu tun, welche die Verteidigerrechte ausgebaut und die Staatsanwaltschaft vermehrt als Gegenpartei positioniert habe.
Der Standpunkt von Oberstaatsanwalt Imholz sei demnach nicht abwegig und durchaus vertretbar. «Was nicht heisst, dass seine Haltung richtig ist», so Killias. Letztendlich gehe es um die Frage, ob die Staatsanwaltschaft auch noch vor Gericht zur Achtung von Treu und Glauben verpflichtet sei. Vieles spreche dafür, dass diese Pflicht die Staatsanwaltschaft in allen Verfahrensstadien trifft. «Ob das Bundesgericht die Haltung von Oberstaatsanwalt Imholz akzeptieren würde, wage ich darum zu bezweifeln.»
Nora Markwalder, Assistenzprofessorin unter anderem für Strafrecht an der Universität St. Gallen, hält fest, dass die Staatsanwaltschaft auch als Prozesspartei der Objektivität und der Suche nach der materiellen Wahrheit verpflichtet sei. «Sie kann auch als Partei vor Gericht nicht wesentliche Punkte weglassen, die der materiellen Wahrheitsfindung dienlich wären.» Ihrer Ansicht nach trifft die Staatsanwaltschaft auch im Stadium des Haupt- oder Rechtsmittelverfahrens eine Mitwirkungspflicht. Spätestens nachdem das Obergericht den Kronzeugen national und international ausgeschrieben hatte, hätte die Staatsanwaltschaft das Obergericht über den Aufenthaltsort von Peeters unterrichten müssen.
«Verschweigt die Staatsanwaltschaft Tatsachen, die sie hätte weiterleiten oder vorbringen müssen, so verletzt sie ihre strafprozessualen Pflichten», hält Markwalder weiter fest. Dies sei allerdings nicht gleichzusetzen mit einer strafrechtlich relevanten Handlung des Staatsanwalts. «Um allfällige strafrechtliche Handlungen wie beispielsweise Amtsmissbrauch oder Unterdrückung von Urkunden in Betracht zu ziehen, müssen schon gewichtige Verdachtsmomente im Raum stehen, deren Prüfung sich mir aufgrund der mangelnden Aktenkenntnis verbietet.»
Das Urner Obergericht scheint von den Vorwürfen an die Adresse der Staatsanwaltschaft wenig beeindruckt. Nach dem Plädoyer von Imholz hielt Obergerichts-Vizepräsident Thomas Dillier am Mittwoch fest, dass das Gericht eine Strafbehörde und keine Strafverfolgungsbehörde sei. «Wir eröffnen keine Strafuntersuchungen oder -verfahren. Zuständig dafür ist die Polizei oder die Staatsanwaltschaft.» Was von dieser Aussage zu halten ist, hat Rechtsprofessor Benjamin Schindler hier bereits ausgeführt.
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