Über 800 Personen haben sich angemeldet, um sich im Gefängnis Zürich West freiwillig einsperren zu lassen. Vom 24. bis zum 27. März fand ein Testlauf für das neue Gefängnis statt, das am 4. April eröffnet werden soll – unter möglichst realitätsnahen Bedingungen.
Rund 170 Personen wurden ausgewählt, um für einen oder mehrere Tage «Gefangene» zu sein. Ich meldete mich für zwei Tage an, wie lange ich dann effektiv sitzen würde, wusste ich nicht. Am Freitagmittag, Punkt 12 Uhr, musste ich einrücken. Was mir während meines Aufenthalts besonders aufgefallen ist, erfährst du hier.
«Sie werden nicht länger als eine halbe Stunde hier drin sein», klärte mich die Aufseherin auf, nachdem sie mir meinen Rucksack, mein Handy, den Schmuck und was ich sonst bei mir hatte, abgenommen hatte. Dann schloss sie die Tür der Wartezelle. Es ist die erste Station im Aufnahmeprozess.
Allein und nur noch mit den eigenen Kleidern am Leib sass ich da. Der Raum war schmal, etwa viereinhalb Quadratmeter klein, eine Art Sitzgelegenheit und ein Tisch aus Beton ragten aus der Wand.
Von der hohen Decke aus erhellte grelles, kaltes Licht die weiss gestrichene Zelle. Es gab nichts, womit ich mich visuell hätte beschäftigen können: keine Bilder, Landschaftskarten, nicht mal einen Informationsbrief. Ein Buch durfte ich auch nicht mitnehmen.
Zu Beginn fand ich diesen Zustand ohne Handy und ohne Ablenkung ganz angenehm. Doch bald beschlich mich das Gefühl, plötzlich und komplett von der Aussenwelt abgeschottet zu sein. Keine Uhr und kein Fenster wiesen darauf hin, wie viel Zeit bereits vergangen war.
Irgendwann hörte ich, wie in der Nebenzelle ein Mann hereingebracht wurde. Etwas später holten ihn die Aufseher wieder ab. Ich wurde nervös. Warum holen sie ihn vor mir? Haben die mich vergessen? Dann ging das Licht aus, was mich noch nervöser machte. Ich drückte den roten Knopf der Meldeanlage.
«Hallo?»
«Grüezi, ich habe das Gefühl, schon viel länger als 30 Minuten hier zu sein. Geht’s noch lange?»
«Ich schicke jemanden.»
Die kleine, weisse Klappe an der schweren Tür öffnete sich und zwei Augen blickten mich an. «Wie heissen Sie?» Ich sagte meinen Namen. «Nun», antwortete der Mann, «wir finden Sie nicht im System. Ich komme gleich wieder.»
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit ich tatsächlich in dieser Wartezelle sass. Es fühlte sich unangenehm lange an.
Irgendwann öffnete sich die Tür und ein Aufseher sagte ausserordentlich freundlich: «So, jetzt geht es weiter zur Leibesvisitation.»
«Alles ausziehen?», fragte ich die Aufseherin.
«Nur, wenn Sie wollen.»
Wenn ich eine echte Inhaftierte wäre, hätte ich bei der Leibesvisitation keine Wahl gehabt. Ich behielt meine Unterwäsche an und befolgte die Anweisungen der Aufseherin: Haare ausschütteln, Mund öffnen, Arme ausstrecken, Hände hochhalten, Finger spreizen, umdrehen und zum Schluss tief in die Hocke gehen. Ich war froh, nicht völlig nackt sein zu müssen. «Für uns ist dieser Teil auch unangenehm», sagte die Aufseherin.
Sie gab mir einen grauen Pullover, Trainerhosen und Socken in Schwarz und quietschgrüne Crocs.
Von den anderen Insassinnen erfuhr ich später, dass sie Männerunterhosen anziehen mussten. Sie durften ihre eigene Unterwäsche nicht anbehalten und da es keine für Frauen gab, erhielten sie Boxershorts.
Dass das Gefängnis eher auf Männer ausgelegt ist, erfuhr ich ausserdem in der Wohnzelle. Ich bekam Bettwäsche, ein Handtuch und eine Plastikbox in die Hände gedrückt. Darin befanden sich Besteck, zwei Becher aus Plastik, eine Zahnbürste, Zahnpasta, eine Kernseife und – zu meinem Erstaunen – ein Kondom. «Werden wir das brauchen?», fragte ich leicht amüsiert. Die seien für die Männer, erklärte der Aufseher, ohne das Gesicht zu verziehen. Sofern sie sich beim Duschen näherkommen.
Warum es keinen Tampon in der Box habe, fragte ich. Der Aufseher zuckte mit den Schultern: «Weisung von oben.»
Für den hätte ich tatsächlich Verwendung gehabt. Ich bekam während der Zeit im Gefängnis meine Periode und als ich nach einem Schmerzmittel und Tampons fragte, war die Aufseherin etwas aufgeschmissen. Sie hätten bloss das, sagte sie und drückte mir mit entschuldigendem Blick drei Damenbinden und einige Beutel Schwarztee in die Hand.
Anmerkung der Redaktion: Gemäss der Zürcher Justizdirektion erhalten weibliche Inhaftierte Menstruations-Artikel auf Anfrage.
Ich teilte mein Zimmer mit einer Tätowiererin namens Monique. Sie war ein paar Jahre älter als ich und nannte mich liebevoll «Zellgenossin».
Sie konnte gut zeichnen und als ich ihre Skizze von unserem Zimmer sah, fragte ich aus Gewohnheit: «Darf ich ein Foto von deiner Zeichnung machen?» «Kannst du schon, aber womit?», fragte Monique mit einem Grinsen im Gesicht. Dass ich mein Handy nicht einfach zücken konnte, hatte mein Unterbewusstsein noch nicht geschnallt.
Bewegen durften wir uns nur innerhalb der Zelle. Zur Beschäftigung konnten wir Bücher von einer Art Kiosk-Wagen ausleihen, der zudem Getränkefläschchen, salzige sowie süsse Snacks und Zigaretten in Plastikbehältern brachte. Man musste sich aber entscheiden: rauchen oder snacken, beides konnte man nicht haben.
Üblicherweise erhalten die Inhaftierten sieben Franken pro Tag, mit denen sie sich diese Dinge kaufen können. Davon geht ein Franken schon mal für den Fernseher weg, der in der Zelle steht.
Allerdings gab es keine Schweizer Sender wie SRF oder TeleZüri. Das sei absichtlich so, erklärte der Aufseher. Offenbar sollten mögliche Täter nicht unbedingt sehen, wie im Fernsehen über ihre Verbrechen berichtet würde. Deshalb hätten die Inhaftierten keinen Zugang zur lokalen oder nationalen Berichterstattung.
Das Fenster unserer Zelle war auf einen Mini-Innenhof gerichtet. Von da aus sah man in andere Zimmer und auf eine kleine Wiese mit Pflanzen.
Als plötzlich ein Vogel in den Hof hinunterflog, sprang meine Zellgenossin begeistert ans Fenster. «Schau, eine Bachstelze!» Offenbar war Monique eine Hobby-Ornithologin. Wir beobachteten das kleine Tier, bis ein Aufseher in unsere Zelle kam und erklärte: «Sie können sich parat machen für den Hofgang.»
Eine Stunde pro Tag dürfen die Insassen im Gefängnis Zürich West an die frische Luft. So ist es im Tagesprogramm vorgesehen. Frauen und Männer gehen dabei getrennt.
Der Hof befindet sich hoch oben auf dem Gebäude: Man sieht durch die engen, verglasten Spalten im Gemäuer auf den Bahnhof Hardbrücke sowie den Club Hive herab und in der Ferne auf den Züriberg. Der Boden ist aus grünem, vulkanisiertem Kautschuk, dem gleichen Material wie Outdoor-Basketballplätze. Es hat Sitzbänke, Aschenbecher und zwei Pingpong-Tische. Ein Aufseher brachte uns Schläger und Pingpongbälle.
Sich an der frischen Luft bewegen und mit mehr als einer Person unterhalten zu können, war grossartig. Wir schwatzten, spazierten, spielten Rundlauf und genossen die Sonnenstrahlen, die durch das Gitternetz drangen, das über unseren Köpfen gespannt war.
Obwohl es noch einige Punkte zu verbessern gibt, war ich positiv überrascht. Zum einen hätte ich erwartet, dass mir im Gefängnis viel langweiliger wäre. Dass dem nicht so war, hatte vermutlich mit der ganzen Aufregung zu tun, die spätestens nach dem dritten Tag im Knast verschwinden würde.
Zum anderen hat dieses Gefängnis nichts mit den Bildern zu tun, die man aus anderen Ländern oder älteren Anstalten kennt. Es ist modern, Plexiglasscheiben ersetzen Gitterstäbe und die Lüftung sorgt für angenehme Luft, obschon in den Zellen geraucht werden darf. Klar ist das alles aus dem privilegierten Standpunkt betrachtet, nicht unbegründet und nur für kurze Zeit in einem Gefängnis zu sein.
Es sei auch nicht der Ort, wo die «schweren Jungs» landen würden, erklärte eine Aufseherin. In Zürich West werden Personen inhaftiert, die vorläufig festgenommen werden oder in Untersuchungshaft kommen.
Einzig der «Knast-Frass» wurde seinem Ruf gerecht. Das Risotto am Mittag war fad und sah aus wie zweimal gegessen (Zitat Monique). Die Spaghetti mit Gorgonzola-Sauce zum Nachtessen waren wohl gut gemeint, aber Schimmelkäse ist eines der polarisierendsten Lebensmittel überhaupt: Entweder man liebt oder hasst ihn. Eine solide Tomaten- oder Pesto-Sauce entspräche eher dem Massengeschmack.
Bemerkenswert waren die Aufseherinnen und Aufseher. Sie waren empathisch, freundlich und nahmen Feedback an. Es wäre wünschenswert, dass sie diesen Umgang beibehalten, wenn es dann ab dem 4. April ernst gilt.
Mein Austritt am Samstagmorgen verlief kurz und unkompliziert. Total war ich rund 21 Stunden im Gefängnis, inklusive einer erholsamen Nacht auf einem etwas harten Bett. Als ich herauskam, erfreute ich mich besonders zweier Dinge: der frischen Luft und dass der Akku meines Handys leer war.
Anmerkung der Redaktion: Gemäss der Zürcher Justizdirektion ist das Rauchen nur in ausgewählten Zellen erlaubt.
Nochmals Glück gehabt
Eine sehr interessante Erfahrung. Man glaubt nämlich gar nicht wie schwierig der Job als Wärter ist und auf was man alles gleichzeitig achten muss und auch niemanden vergessen darf.
Man hat auch so viel um die Ohren, dass halt da mal ein Hofgang vergessen geht. Dennoch versucht man den Menschen immer auf einer Augenhöhe entgegen zu kommen.
Bestraft wurden sie schon. Man muss sie im Gefängnis nicht noch mehr bestrafen, indem man ihnen das Leben dort noch schwieriger macht.