Sie schwatzten während des Unterrichts, vergassen ihre Hausaufgaben, spielten der Lehrperson einen Streich oder kritzelten auf das Schulpult. Es sind harmlose Dinge, welche in Gewalt mündeten: in Ohrfeigen, Kopfnüssen, dem Zerren an Haaren oder dem Werfen von Gegenständen durch die Lehrpersonen.
Was heute verboten ist, war im 20. Jahrhundert an der Tagesordnung: körperliche Strafen an den Volksschulen. Es ist ein dunkles Kapitel, das bislang kaum beleuchtet wurde. Das ändert nun der Historiker Stefan Bartholet mit seiner Untersuchung im Kanton Zürich zwischen 1945 und 1985. Dafür führte er unter anderem eine schriftliche Umfrage bei Einwohnerinnen und Einwohnern des Kantons durch, um ihre Erfahrungen diesbezüglich zu erheben. Insgesamt 1087 Personen nahmen daran teil, 653 besuchten im Kanton Zürich die Primarschule.
Nur eine Minderheit von ihnen – 14 Prozent – gab an, nie selbst eine körperliche Bestrafung durch eine Lehrperson erlebt und auch nie eine solche bei Mitschülerinnen oder Mitschülern beobachtet zu haben. Die allermeisten Teilnehmenden wissen somit, wie es sich anfühlt, vor der Klasse schmerzhaft erniedrigt zu werden.
Zwar nahmen die körperlichen Strafen während des Untersuchungszeitraums tendenziell ab, doch sie verebbten nicht. Am häufigsten verteilten Lehrpersonen Tatzen – Schläge auf die Hand oder die Handfläche -, Ohrfeigen und Kopfnüsse, bewarfen die Kinder mit Gegenständen, zerrten an ihren Ohren oder Haaren. Im Laufe der Zeit verschob sich die Häufigkeit dieser Strafen. So berichteten die älteren Teilnehmenden am meisten von Tatzen, während die jüngeren solche kaum noch erlebten. Letztere gaben jedoch oft an, dass ihnen Gegenstände an den Kopf geschlagen oder geworfen wurden. Etwa ein Buch, ein Schlüsselbund, ein nasser Schwamm oder eine Schachtel mit Scheren.
Unabhängig vom Jahrgang gab fast ein Drittel an, mehr als eine Strafart erlebt zu haben. Die konkreten Schilderungen sind brutal. Da schlug eine Lehrperson die Köpfe von Schülern zusammen, es gab «Magenboxen» oder Fusstritte. Ein Studienteilnehmer mit Jahrgang 1935 schilderte die Gewalt folgendermassen: «Dieser Lehrer machte immer wieder dasselbe: Er stand vor der Schulbank, kniff mit beiden Händen in die Backen und drückte fest zu. Dann drückte er den Kopf zwischen seine Knie und versohlte den Hintern.» Am eigenen Leib habe er diese Strafe ein Mal erlebt. «Weil ich dabei in die Hose machte, ist es mir bis heute in Erinnerung geblieben.»
Häufiger waren es Lehrer, die handgreiflich wurden. Doch auch Lehrerinnen konnten gewalttätig sein. Eine Studienteilnehmerin mit Jahrgang 1963 notierte etwa: «Mir riss die Lehrerin an den Haaren, wenn ich Kopfrechnungen nicht richtig löste, doch andere Kinder behandelte sie noch viel grober.» Bei einem Bauernmädchen habe sie jeweils so lange am Zopf gerissen, bis es weinte. Eines Tages sei es mit kurzen Haaren zur Schule gekommen. Das Mädchen hatte sich die Zöpfe abgeschnitten.
Die körperliche Züchtigung von Kindern hat eine lange Tradition. Im antiken Griechenland etwa galt die harte Strafe als unentbehrlich, um Gehorsam und Disziplin zu erzwingen, schreibt Historiker Bartholet. Auch im antiken Rom gehörten Schläge mit der Rute oder Lederriemen zum Alltag eines Schulkindes. Im Mittelalter wurden einschlägige Bibelstellen hinzugezogen, um körperliche Strafen zu legitimieren. Kritik an solchen Züchtigungsmassnahmen gibt es vor allem seit der Aufklärung. Berühmte Pädagogen wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi forderten, Kinder durch Einsicht statt durch körperliche Strafen zu erziehen.
Zwar galten diese gegen Mitte des 20. Jahrhunderts aus pädagogischer und psychologischer Sicht nicht mehr als «Erziehungsmittel», doch die Realität sah anders aus. Und auch die Rechtslage. Bis 1985 erlaubte die Zürcher Volksschulverordnung in «Ausnahmefällen» die körperliche Züchtigung. Konkret bedeutete das: Die Lehrpersonen durften sich «nicht vom Zorne hinreissen lassen» und «das körperliche Wohl oder das sittliche Gefühl der Schüler» gefährden.
Dieses Züchtigungsrecht war im Kanton Zürich politisch und juristisch umstritten. Wiederholt debattierten Kantonsrätinnen und Kantonsräte darüber. Die Argumente waren gemäss Bartholet fast immer dieselben: Wer dagegen war, verwies auf mögliche körperliche und psychische Schäden der Schülerinnen und Schüler sowie auf die zeitgenössische pädagogische Literatur. Jene, die am Verbot festhalten wollten, sprachen hingegen Körperstrafen in Ausnahmefällen eine positive Wirkung zu, fanden, dass die Lehrpersonen Augenmass walten lassen würden und wollten diese vor strafrechtlichen und disziplinarischen Massnahmen schützen.
Andere Kantone wiesen hingegen die körperlichen Strafen in viel engere rechtliche Schranken. In den Kantonen Schwyz und Luzern waren nur die Tatzen erlaubt, in Basel-Stadt durften einzig Buben in Ausnahmefällen körperlich bestraft werden – das Reissen an den Ohren oder Haaren und Schläge auf den Kopf waren dabei «unter allen Umständen verboten». Körperliche Züchtigungen an den Schulen ausdrücklich untersagt hatten Anfang der 1960er-Jahre bereits die Kantone Genf, Neuenburg, Tessin und das Wallis. Ein solches Verbot trat im Kanton Zürich erst 1986 ein.
Die Studie von Historiker Bartholet zeigt nun auf, dass Lehrpersonen selbst das lasche Zürcher Züchtigungsrecht in den Jahrzehnten zuvor regelmässig überschritten haben. Die Studienteilnehmenden berichteten unter anderem von Nasenbluten, aufgeplatzten Lippen, Striemen, abgebrochenen Zähnen, Hirnerschütterungen oder gar einem gerissenen Trommelfell als Folge der Körperstrafen. Bartholet hält fest: «Überschreitungen des Züchtigungsrechts waren somit keine absoluten Ausnahmefälle.»
Wie also reagierten die Schulbehörden? Tendenziell mild, so lassen sich die Ergebnisse von Historiker Bartholet zusammenfassen. Zwar haben die Zürcher Schulbehörden mehrmals darauf hingewiesen, dass Lehrpersonen körperliche Strafen unterlassen sollen. Gleichzeitig gingen gewisse Schulpflegen Vorwürfen nicht nach und redeten diese klein. Selbst wenn ein Verstoss gegen das Züchtigungsgesetz vorlag, ermahnten die Schulbehörden in der Regel die Lehrperson bloss – wenn überhaupt. Nur in schweren Fällen sei eine Disziplinarmassnahme wie ein Verweis ausgesprochen worden.
Gemäss Bartholet ist es auffällig, dass Schulbehörden ein problematisches Verhalten einer Lehrperson häufig mit einer psychischen Erkrankung erklärten. Deshalb hätten während des ganzen Untersuchungszeitraums ärztliche Krankschreibungen eine wichtige Rolle gespielt, die in vorzeitigen Pensionierungen oder Beurlaubungen mündeten.
Von vielen Fällen körperlicher Züchtigung dürften die Schulbehörden gar nichts mitbekommen haben. So hatte fast jeder zweite Studienteilnehmende den Eltern nichts von den Körperstrafen erzählt. Und lediglich 9 Prozent gaben an, dass die Eltern sich bei der Schulbehörde beschwerten.
Das erstaunt wenig, wenn berücksichtigt wird, dass bis heute rund 40 Prozent der Eltern körperliche Gewalt ausüben, 6 Prozent sogar regelmässig. Diese Zahlen hat die Universität Freiburg 2023 erhoben. Gewalt in der Erziehung zu Hause ist bis heute gesetzlich nicht verboten, wenn sie nicht zu sichtbaren Schäden führt.
Das könnte sich aber bald ändern. Im vergangenen August hat der Bundesrat vorgeschlagen, die gewaltfreie Erziehung explizit im Zivilgesetzbuch zu verankern. Dem muss das Parlament noch zustimmen. Internationale Studien zeigten, dass eine solche Gesetzgebung eine Reduktion der Gewalt in Familien mit sich bringt. Gleiches liess sich in den Schulen beobachten. Ohrfeigt heute eine Lehrperson eine Schülerin oder einen Schüler, berichten Medien darüber, Massnahmen folgen postwendend.
Szenen, wie eine Studienteilnehmerin mit Jahrgang 1957 schildert, sollten dadurch künftig der Geschichte angehören: «Bis vor kurzem habe ich meinen Primarschullehrer noch manchmal in der Stadt gesehen. Immer wollte ich ihn auf diese Zeit ansprechen. Ich kann es aber nicht. Noch heute habe ich grosse Angst vor diesem Mann.» (aargauerzeitung.ch)
Damals gabs noch keine Stelle, um sich zu wehren.
Fast alle wussten es und schauten weg.