Zürich Hauptbahnhof, Treffpunkt. An kaum einem anderen Ort in der Schweiz begegnen sich normalerweise mehr Menschen als hier. Donnerstagmittag fünf vor Zwölf: gähnende Leere.
Die Stichprobe zeigt: Die Menschen halten sich in der grössten Stadt der Schweiz grundsätzlich an die Anordnungen des Bundesrats. Auch die Polizisten, die im Hauptbahnhof auf Streife sind, bestätigen das. Sie mussten noch keine Gruppe auseinander treiben. Halten sich die Leute also daran? «Mehr oder weniger.»
Das ist nicht selbstverständlich. Der Hauptbahnhof in Zürich ist sonst ein beliebter Treffpunkt für junge Leute. Gleich neben dem Treffpunkt mit der grossen Uhr stehen oft Gruppen zusammen. Am Donnerstagmittag ist aber kaum jemand zu sehen. Die Szenerie wirkt gespenstig. Mitten in der Bahnhofshalle hat eine Apotheke ihr Provisorium aufgebaut. Nicht wegen Corona, sondern wegen Umbau. Es ist kaum Kundschaft da.
Das Limmatquai, wo sich noch am Wochenende viele Menschen versammelten, was in den sozialen Medien für Unmut gesorgt hat, ist praktisch menschenleer. Nur Paare kommen sich nahe.
Auf der Gemüsebrücke, direkt hinter dem Rathaus, sitzen drei Elektriker nahe beisammen. Auf den Verstoss gegen die Weisungen des Bundes angesprochen, zucken sie mit den Schultern. «Auf der Baustelle kommen wir uns viel näher als hier, warum sollten wir in der halben Stunde Mittagspause Abstand halten?»
Die fatalistische Einstellung der jungen Arbeiter verweist auf ein Problem. Wie die Gewerkschaft Unia anprangert, halten sich einige Baufirmen nicht an die Vorgaben. Das hat auch damit zu tun, dass Distanzhalten im Büro oft einfacher ist als auf der Baustelle.
An der Seepromenade ist die Disziplin der Menschen mässig. Auf den Bänken, die direkt am Ufer sind, ist die Distanz zwischen den Menschen gering. Ein Mann mit einer bösen Clownmaske fährt auf einem Velo an der Seepromenade auf und ab. Er hat ein Schild dabei. Dort steht: «Stay home or you get what you deserve.» Bleib zuhause oder du bekommst, was du verdienst.
Die Restaurants in der Stadt Zürich halten sich an die Devise: Nur noch Take Away. In der Currywurst-Bude am Escher-Wyss-Platz, in der Nähe des KV-Schulhauses, weisen gelbe Klebebänder am Boden auf den Abstand hin. Die Kunden halten sich peinlichst daran und weichen einander aus. Allerdings sind auch nur wenige Kunden gleichzeitig vor Ort.
Weiter flussabwärts auf der Werdinsel patrouillieren zwei Polizisten. Kritisch beäugen sie ein halbes Dutzend Jugendliche, das es sich auf der Wiese bequem gemacht hat. Sie schreiten nicht ein. Sie berichten aber, dass sie am See und im Bereich der beliebten Lettenbadi schon Menschengruppen ermahnen mussten.
Nun zu einem anderen Treffpunkt, einem für religiöse Menschen. Dem Kloster Einsiedeln.
An Spitzentagen pilgern Tausende Personen zur Muttergottes nach Einsiedeln. Jetzt, am Donnerstagmittag, ist der Klosterplatz leergefegt. Die Kirche darf man zwar noch betreten, aber nur zu bestimmten Zeiten. Eine Klosterangestellte wacht, dass nicht zu viele Personen auf einmal vor der Schwarzen Madonna niederknien. Gottesdienstbesuche sind verboten, sie werden per Livestream übertragen.
Paolo Napoletano aus St. Gallen ist technischer Berater im Aussendienst. Er hat die Mittagspause genutzt, um vor der Gnadenkappelle zu beten, in der Maria thront. Die gespenstige Atmosphäre am grössten Wallfahrtsort der Schweiz beschreibt er als surreal. Das Gebet, sagt er, spende Trost in diesen schwierigen Zeiten.
Die wenigen Gläubigen respektieren die Verhaltensregeln klaglos. Im Park neben dem imposanten Barockbaus befinden sich nur wenige Leute, auch sie hochdiszipliniert. Das gilt auch für den Kebabverkäufer an der Hauptstrasse. Er achtet peinlich genau darauf, dass gleichzeitig nicht mehr als zwei Kunden den Take-away-Stand betreten. Schon viermal sei die Polizei bis am Mittag das Dorf hinauf- und hinuntergefahren. Er wolle seine Bewilligung nicht riskieren – und mahnt auch Kunden, die Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit zu befolgen. Ihn plagen existentielle Sorgen. Die Kosten für Miete und Personal bleiben, die Kunden fehlen.
Die Eindrücke vom Donnerstag zeigen: Die Leute gehen im öffentlichen Raum mehrheitlich auf Distanz. Wird das reichen, damit der Bundesrat auf eine Ausgangssperre verzichtet? Andere Länder haben ihren Bürgern rigorosen Hausarrest erteilt. Sie dürfen nur noch zum Einkaufen in den nächsten Laden.
Wer ohne trifftigen Grund draussen erwischt wird, dem drohen zum Teil drakonische Strafen. Eine wachsende Gruppe an Experten sagt, es sei der einzige Weg, um Corona aufzuhalten.
Daniel Koch, beim Bund zuständig für Seuchen, beschwichtigte gestern gegenüber Journalisten des SRF. Eine Ausgangssperre sei «sicher nicht das Ziel». Wie die Zeitung «Blick» berichtete, fordern aber die Kantone Genf und Waadt die Ausgangssperre. Als sicher gilt: Der Bundesrat beschäftigt sich im Moment mit dieser Frage. Ein vorläufiger Entscheid wird spätestens am Freitag erwartet.