«Was für eine kranke Welt. Was läuft mit den Menschen falsch?» – Die Meinungen waren schnell gemacht, als mögliche Fälle von Needle Spiking an der Zürcher Street Parade publik wurden: Die Berichte stammten nicht etwa aus der Gerüchteküche, sondern von offizieller Stelle selbst: Die Blaulichtorganisation Schutz & Rettung der Stadt Zürich teilte am Wochenende mit, dass acht Fälle mit Verdacht auf Needle Spiking gemeldet wurden. Die Mehrheit davon waren junge Frauen.
Gemeint sind damit angeblich heimlich gemachte Stich-Angriffe an Party-Orten: Letztes Jahr soll es solche Fälle in Grossbritannien, diesen Frühling in Australien und letztes Wochenende in Zürich gegeben haben.
Sieben von ihnen meldeten sich am Samstag beim Sanitätsposten bei der Nationalbank, gleich neben dem Bürkliplatz. Die letzte Meldung erfolgte gegen 21 Uhr beim Opernhaus.
Die Opfer wiesen alle «offensichtliche Einstichstellen» auf, wie es von den Behörden heisst. Wodurch diese verursacht wurden, wissen weder die Behörden noch die Betroffenen selbst. Möglich seien medizinische Injektionsnadeln, andere Nadeln oder sonstige «spitzen Gegenstände». Die genaue Ursache herauszufinden, sei aber «schwierig bis fast unmöglich», sagt Urs Eberle, Chefsprecher der Zürcher Rettungsorganisation Schutz & Rettung.
Klar sei nur, dass sie weder von Wespen noch von Mücken verursacht wurden: «Die medizinischen Fachkräfte können den Einstich einer Nadel oder eines spitzen Gegenstandes gut von einem Insektenstich unterscheiden», so Eberle weiter.
Die Faktenlage ist also dünn, die Gerüchteküche brodelt. Eine Frau berichtete einer watson-Mitarbeiterin, dass sie wegen eines Blackouts an der Street Parade in grosser Sorge sei. Ihr Fall stellte sich im Verlauf des Tages als K.-o.-Tropfen heraus. Eine weitere Frau erzählte auf TikTok von einem Sanitätsbett aus, sie sei «14 Mal» gestochen worden. Ihr Video verbreitete sich in Windeseile zehntausendfach und löste eine Flut an Kommentaren und Spekulationen aus, obwohl – Stand Montagnachmittag – die genauen Hintergründe unklar waren.
Solche Vorfälle und die darauffolgende Berichterstattung erinnert stark an den Needle-Spiking-Herbst 2021 in Grossbritannien. Die britische Presse berichtete damals über unzählige mögliche Opfer, die in Nachtclubs angeblich gestochen wurden und später wegen Übelkeit oder Schwindel im Spital landeten. Polizeiangaben zufolge kam es innert weniger Monate zu über 1300 Meldungen.
Die Medien lieferten sogenannte Service-Artikel, in denen die «wichtigsten Anzeichen dafür, dass du betäubt wurdest» aufgelistet wurden. Solche Berichte stiessen im Oktober 2021 auf ein riesiges Interesse, wie Google-Suchdaten zeigen. Needle Spiking wurde zum klassischen medialen Dauerbrenner mit Forderungen von Politikerinnen und Politikern – obwohl von den hunderten Meldungen kaum ein einziger Fall nachweislich eine gefährliche Form des Needle Spiking war.
So erklärte Anfang 2022 die schottische Polizistin Laura McLuckie, dass von 51 gemeldeten Fällen kein einziger Beweis für ein gezieltes Pieksen und auch keine Spuren von Drogen gefunden wurden. Sie vermutete, dass die Angst vor dem Needle Spiking durch die mediale Aufmerksamkeit entstanden sei. Im selben Zeitraum hiess es von Adrian Boyle, dem Leiter der Notfallmedizin des britischen Gesundheitssystems (NHS): «Es gibt derzeit keine verlässlichen Daten über die Häufigkeit von Spiking.» Es gab zwar Menschen, die einen solchen Angriff in der Notaufnahme vermuteten – Spuren von Beruhigungsmitteln, Drogen und K.-o.-Tropfen fand man aber auch hier in den meisten Fällen nicht.
Konkret in Zahlen heisst das: Von 100 untersuchten Fällen fiel die Mehrheit negativ aus. Einige positive Tests gab es dort, wo Betroffene ein Betäubungsmittel unter ärztlicher Verschreibung zu sich nahmen. In einem Fall konsumierte ein «Opfer» ein sedierendes Antiallergikum (Diphenhydramin), eine weitere Person hatte Spuren von «Magic Mushrooms» intus, bei einer dritten Person fand man den Wirkstoff von K.-o.-Tropfen, GHB (Liquid Ecstasy). Letzterer Stoff wäre besorgniserregend. Ein Experte kam in einer öffentlichen Anhörung jedoch zum Schluss, dass das GHB wohl eher durch ein Getränk als durch eine Injektion verabreicht wurde: «Es wäre sehr schwierig, das jemandem zu injizieren, ohne dass sie es merkt.»
Wie ist es also möglich, dass so viele Berichte auftauchen und sich manche Opfer mit sichtbaren Einstichstellen subjektiv betäubt fühlen?
«Psychology Today», eine US-amerikanische Zeitschrift für Psychologie, wirft als mögliche Ursache die «soziale Panik» ins Feld: «Angst und Stress können zu echten körperlichen Symptomen führen.» Die Geschichte hätte gezeigt, dass der «mysteriöse böse Nadelstecher, der sich an verletzlichen Frauen vergreift», schon mehrmals zu sozialer Panik geführt habe. Genährt würde diese Furcht durch Falschnachrichten, wonach Frauen beim Needle Spiking mit HIV infiziert oder zumindest verängstigt wurden.
Diese unbegründeten Sorgen sind auch den Schutzorganisationen der Stadt Zürich bekannt. Auf die Frage, ob den Betroffenen eine HIV-Prophylaxe verabreicht wurde, sagt der Sprecher: «Es ist nicht erwiesen, dass überhaupt Substanzen verabreicht werden, diese Möglichkeit wird als eher gering eingeschätzt.» Den acht Personen sei aber geraten worden, sich ärztlich im Spital untersuchen zu lassen. Die Ergebnisse der Untersuchungen konnte die Stadt Zürich aufgrund des Datenschutzes nicht verraten.
Womit sich die Frage stellt: Wieso verwendet die Stadt Zürich den Begriff Needle Spiking in einer Medienmitteilung, wenn nichts bekannt ist? Befeuert sie sogar ungewollt eine Angst?
Der Mediensprecher wehrt sich gegen diesen Vorwurf: Man verfolge eine «offene, transparente und proaktive Informationspolitik». Das «Phänomen» und seine Hintergründe seien zwar «noch völlig unbekannt» – aber: «Es gab bisher noch keine vergleichbaren Fälle in Zürich und es war damit zu rechnen, dass bekannte Fälle auch medial aufgenommen werden.» Es gehöre zum «Auftrag einer behördlichen Institution», in solchen Fällen zu kommunizieren. Der dafür gewählte Begriff «Needle Spiking» sei international und in der Schweiz etabliert.
(Meine aber deswegen nicht, dass Verschweigen gut wäre).
Das Leute herumlaufen die das machen ist zu genüge Besorgniserregend.
Was für kranke Geister das sein müssen.