Rino ist genervt. Schon wieder ist eine Tür kaputt, dieses Mal im zweiten Stock, da wo sich die Polizei am Sonntagabend Zutritt verschaffen musste. Das Metall ist verbogen, das Holz geborsten. Drinnen sieht es aus, als wäre jemand in Eile ausgezogen, der Schrank ist leer, die Matratze vom Rost gerutscht. Aus dem Bad schimmert blaues Licht. Rino schiebt einen Vorhang neben der Tür zur Seite und zeigt auf eine zugeklebte Petflasche mit Rohr. «Für die Drogen», sagt er.
Rino, schwarzes Kopftuch, gelber Ring im Ohr, ist Hauswart in den beiden Liegenschaften an der Neufrankengasse 6 und 14, in den «Gammelhäusern», dem «Brennpunkt» der Stadt, wie die Polizei sagt. Rinos Arbeit ist Sisyphusarbeit, kaum putzt er, ist alles wieder verdreckt, kaum flickt er, ist alles wieder kaputt. Allein in den letzten zwei Wochen habe die Polizei fünf Türen eintreten müssen. Es sei schlimmer geworden, sagt Rino, und auch wenn er selber gar nicht da wohnt – nach getaner Arbeit kann er oft nicht einschlafen.
Man braucht nicht lange, um zu verstehen, warum: Hier, an der Neufrankengasse, inmitten schick sanierten Häuserblocks mit raumhohen Fenstern und grosszügigen Balkonen, hier ist das Elend zu Hause.
Rino redet schnell, sein Deutsch ist gebrochen, immer wieder fallen italienische und spanische Wortfetzen in seine Sätze. Er kennt fast alle Mieter gut, und fast alle, die hier ein- und ausgehen. Auch an diesem Montagvormittag vergehen keine zehn Minuten, in denen nicht Menschen das Haus mit der Nummer 6 aufsuchen, im Treppenhaus verschwinden, irgendwo, auf einem der Stockwerke Stoff besorgen, und wenige Augenblicke später wieder rauskommen. Stock Sieben, sagt Rino, der sei der schlimmste.
Von draussen ist der Rücken einer sitzenden Frau im verglasten Treppenhaus zu sehen, weil Rino vermutet, dass sich dort gerade jemand einen Schuss setzt, nimmt er lieber den Lift, den er mit einem kleinen Schloss verriegelt hat, damit nicht dort drin auch noch gefixt wird. Auf Stock Fünf schiebt er die wacklige Lifttür zur Seite und schreitet zielstrebig zum Ende des Flurs. Die Tür der letzten Wohnung ist nur angelehnt, dort, wo mal ein Schloss war, klafft jetzt ein tellergrosses Loch. «Dieser Mieter musste gestern in die Klinik», sagt Rino und schiebt entschlossen die Tür auf. Er ahnt, was jetzt kommt.
In der kleinen Wohnung liegen zwei Männer in Jeans und Pulli auf einer Matratze, sie schlafen, Rino kriegt sie kaum wach, reisst das Fenster auf, rammt den Fuss ins Bein des einen. «Macht dass ihr rauskommt! Subito!» Die beiden rappeln sich auf, mit Mühe schnüren sie ihre Schuhe zu. «Red nicht so mit uns», versucht einer Rino entgegenzuhalten, doch der Widerstand ist zwecklos, Rino ist ein guter Rausschmeisser, «null Toleranz», sagt er, «null Toleranz.» Die beiden schlurfen aus der Wohnung, die Köpfe vorgeschoben und gesenkt, die Blicke leer. Es ist jener Gang, der vielen Menschen, die hier ein- und ausgehen, eigen ist.
Die städtischen Sozialdienste schätzen, dass etwas weniger als die Hälfte der Mieter der beiden Häuser Sozialhilfe bezieht. Einige der Bewohner seien unauffällig. Andere würden durch jedes Netz fallen, darunter auch Prostituierte, Drogensüchtige, Kleindealer, die sich, aus Angst vor den Behörden, der Polizei am Rest der Gesellschaft vorbei bewegen.
Der Besitzer habe gezielt Leute einquartiert, die anderswo kaum eine Wohnung fänden, sagt Michael Rüegg, Kommunikationsleiter des Sozialdepartements. An diese verschachert er oder sein Verwalter die desolaten Wohnungen zu saftigen Preisen, allerdings nur noch bis Ende Dezember, dann müssen alle raus, die Häuser sollen saniert werden. Derweil ist ein Strafverfahren gegen den Eigentümer wegen Mietwuchers hängig.
Der einzige Dienst ist der bescheidene Lohn an Hauswart Rino. Dessen Hauptaufgabe der aussichtslose Kampf gegen die Unordnung. Und die Reparaturen für die Mieter, die er gegen Barzahlung erledigt.
Haus 6 verlässt Rino zufrieden, jetzt gerade sieht es ordentlich aus, sauber fast, die Spuren vom Wochenende sind weg. Kaum unten, steuert ihm ein schlaksiger Mann entgegen, die Augäpfel tief in den Höhlen, die Haut fahl. Auch er ist kein Mieter. Rino wechselt ein paar Worte mit ihm auf italienisch, er kennt den Mann von früher, damals, als er aus Italien hierher gekommen ist, hat er mit ihm auf derselben Baustelle gearbeitet. Das war vor sechs Jahren. «Und schau ihn dir jetzt an», seufzt Rino. «Jetzt nimmt er alles.»
Auf dem Vorplatz läuft Rino Marcelo über den Weg. Jaja, er komme noch vorbei, um den Wasserhahn zu flicken, aber nur, wenn Marcelo ihm das Geld dafür geben könne. Marcelo nicht. Er lebt seit elf Jahren mit seiner Frau in einem der Häuser. Wer hier wohne, könne keiner Arbeit nachgehen, ständig Lärm, ständig Dreck, ständig Stoff, ständig Polizei. Gestern sei schon richtig was los gewesen, was genau, weiss er nicht, ist auch egal, Streit um Geld, vermutet Marcelo.
Vor allem gegen Ende Monat, bevor der Lohn da ist, oder eher das Geld der Sozialhilfe, liegen die Nerven an der Neufrankengasse blank. Der ganz normale Wahnsinn.
Nachdem das Haus ein paar Blocks weiter, an der Magnusstrasse 27, geräumt wurde, hat sich die Drogenszene an die Neufrankengasse verschoben, die «geografische Ballung» an Dealern und Süchtigen mache die Liegenschaft zu so einem Brennpunkt, sagt Rüegg von den Sozialdiensten. Die Sozialarbeiter der SIP («Sicherheit, Intervention, Prävention») würden dafür sorgen, dass sich um die Häuser herum keine Szene etablieren könne. Ins Treppenhaus gehen sie nur, wenn etwa die Polizei sie aufbietet. Diese wiederum sehe regelmässig innerhalb der Gebäude nach dem Rechten.
Die Polizei und Rino, der der Streife manchmal Zeichen gibt, wenn diese am Haus vorbeipatrouillert.
Alles in Ordnung. Ihr könnt weiterfahren.
Das Problem seien ja nicht die Mieter, sagt Rino, und würden die Besucher nur kommen, Drogen kaufen, und wieder gehen, wäre alles gar nicht so schlimm. Aber die Garage von Haus Nummer 6 ist innerhalb der letzten Monate zur Fixerstube mutiert. Rino schreitet die Einfahrt entlang dem beissenden Uringeruch entgegen, «Parkieren verboten» steht an der Wand, er steigt über eine zerfledderte Bibel, gebrauchte Spritzen und Petflaschen. In einer Ecke kauert ein junger Mann. «Marco, raus hier!», bellt Rino, sieht ihm zu, wie er sich aus der Garage schleppt, geht auf und ab, leuchtet mit der Taschenlampe auf die Müllhaufen. Jeden zweiten Tag räume er hier auf. «Nützt alles nichts», sagt Rino.
Auch der eben rausgeschmissene Marco wohnt nicht hier, aber Rino kennt ihn trotzdem, wie Nina, die gerade einem Pärchen «ein bisschen Weisses» verkauft, draussen auf dem kleinen Platz zwischen Haus Nummer 6 und Haus Nummer 14. Ihre geschwollenen Hände lassen ein 50er-Nötli in der Handtasche verschwinden, Rino ist entrüstet. «Gerade gekauft und jetzt vertickst dus wieder!». «Immerhin zehn Franken plus gemacht», entgegnet Nina, sie lächelt müde.
Sie gehe jetzt los, sagt sie, und schiebt ihr Fahrrad an. Ob sie ihm etwas Warmes bringen solle, zum Essen? Rino entblösst seine Zähne. «Ja, das wäre nett», sagt er, «immer diese Sandwiches, nie genug Zeit für Warmes. Das macht einfach nicht glücklich». «Gell das wär doch gut, dann mache ich das doch», sagt Nina, «bis nachher, und danke für die Zigarette.» Rino, Hauspolizist, Aufpasser, Rausschmeisser und Freund, klopft Nina zum Abschied auf die Schulter, kneift ein Auge zu, blinzelt mit dem anderen gegen den Himmel und zählt mit den Fingern auf drei.
So viele Monate habe er schon nicht mehr Pasta gegessen, sagt Rino. «Pasta!».
Beide lachen.