Spass
Leben

Was du zu den Wahlen in Grossbritannien wissen musst

Britannien bizarr – wenn Lord Kübelkopf und Graf Eimergesicht kandidieren

Deutschland hat ihre Anarchistische Pogo-Partei, die Schweiz die Anti-Powerpoint-Partei und Grossbritannien ... okay, macht es euch schon mal bequem!
03.07.2024, 11:0403.07.2024, 12:36
Mehr «Spass»

Am 4. Juli wird in Grossbritannien gewählt. Neu zu bestimmen sind die 650 Abgeordneten des Unterhauses – und damit die neue Regierung und der Premierminister (die Partei mit den meisten Sitzen stellt die Regierung und der Parteiführer jener Partei wird Premierminister).

Beim Durchgehen der Kandidaten auf dem Wahlzettel meines Wahlkreises (ja, Auslandsbriten dürfen wählen) fielen mir sofort zwei Sachen auf: Erstens ist die Auswahl an Kandidaten viel grösser als erwartet ...

kandidatenliste kensington and chelsey.
Bild: obi

... und zweitens ist jene nobelste aller grossartigen britischen Tugenden, die der Exzentrik, nämlich, quicklebendig:

kandidatenliste kensington and chelsey.
Bild: obi

Willkommen, also, in der bunten Welt der Randkandidaten der britischen Politik! Jener (selbst ernannter) Emperor of India, etwa? Gestatten, Ankit Love, Konzeptkünstler, Umweltaktivist und Parteichef der One Love Party:

prince ankit love emperor of india
Bild: prince ankit love

2016 kandidierte er als jüngster Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von London. Sein Hauptthema: Luftverschmutzung – und radikale politische Massnahmen, um diese zu bekämpfen.

Doch nebst dem ökologisch gesinnten Quasi-Kaiser gibt es seit jeher eine ganze Reihe weiterer bunter Individuen, die kandidieren. Gerne lassen sich diese in Gemeinden aufstellen, in denen prominente Politiker um ihren Sitz kämpfen – was mitunter unterhaltsame Pressebilder wie das hier ergibt:

2019 election results boris johnson elmo count binface https://ichef.bbci.co.uk/images/ic/1024xn/p07xslw1.jpg
Bild: bbc

Wie es die Tradition will, werden bei britischen Parlamentswahlen die Abstimmungsresultate jedes Wahlkreises live bekannt gegeben – und in Anwesenheit aller Kandidaten. Und so kann es passieren, dass der amtierende Premierminister des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Nordirlands vor die Weltpresse treten muss, flankiert von Elmo aus der Sesamstrasse und einem intergalaktischen Superschurken mit einer Mülltonne auf dem Kopf.

Solche Gestalten zieren die britische politische Landschaft seit langer Zeit. Urvater und einer der bekanntesten solcher Polit-Exzentriker war Screaming Lord Sutch.

15 AUGUST 1963 DAVID - SCREAMING - LORD SUTCH, A POP SINGER WHO IS STANDING FOR A SEAT IN THE BY-ELECTION OF STRATFORD-UPON-AVON AFTER JOHN PROFUMO RESIGNED. WARWICKSHIRE, ENGLAND., Stratford-upon-Avo ...
Bild: www.imago-images.de

Hauptberuflich war David Sutch (der Lord-Titel war selbstredend selbst erfunden) Rock'n'Roll-Musiker.

Lord Sutch 1932818 Lord Sutch by Unknown photographer, 20th century add.info.: Singer Lord Sutch at a concert in England on June 12, 1962. Copyright: xBridgemanxImagesx 1932818
Bild: www.imago-images.de

Jahrzehnte vor Alice Cooper oder Marilyn Manson war er Pionier des Horror-Rock-Genres (wobei er etliche seiner Ideen dem amerikanischen Blues-Sänger Screamin' Jay Hawkins abguckte – inklusive des Namens-Attributs). Doch bereits ab 1963 kandidierte er wiederholt in verschiedensten Wahlkreisen, zunächst als Vertreter der National Teenager Party, später als Parteivorsitz seiner Official Monster Raving Loony Party (etwa «offizielle Monster-Super-Spinner-Partei»). Dies tat er ganze 39 Mal bis zu seinem Tod im Jahr 1999 und stets gänzlich erfolglos – was laut «Guinness-Buch der Rekorde» einen Weltrekord darstellt.

Doch obwohl er nie einen Unterhaussitz gewann, hat Sutch eine beneidenswerte Bilanz vorzuweisen, wenn es darum geht, dass seine Politik vom Establishment angenommen wird. Als der junge Sutch in den frühen Sechzigerjahren zum ersten Mal antrat, umfasste sein Wahlprogramm die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre, die Einführung eines kommerziellen Radioangebots und die Umwandlung der Westlondoner Carnaby Street in eine Fussgängerzone. Alle diese Massnahmen wurden innerhalb eines Jahrzehnts, nachdem Sutch sie propagiert hatte, umgesetzt. Sutch setzte sich auch als Erster für die Einführung der ganztägigen Öffnung von Pubs ein, für 24-Stunden-Lizenzen für Familienbetriebe und die Einführung von Heimtierausweisen. All dies wurde umgesetzt, obwohl Sutch nie den Hauch einer Chance hatte, gewählt zu werden. Womit bewiesen wäre: Exzentrische Randfiguren können wesentlich zum Fortschritt beitragen.

Screaming Lord Sutch und seine Official Monster Raving Loony Party. Politik grossbritannien
Bild: keystone

(Sutchs Vorschlag, Hundefutter mit Zusatzstoffen zu versetzen, um Hundehaufen nachts zum Leuchten zu bringen, fand jedoch nie viel Anklang.)

Alan Howling Laud Hope (Official Monster Raving Loony Party Candidate) with some of his supporters at the count. The by-election was held in Peterborough today after disgraced MP Fiona Onasanya was re ...
Bild: www.imago-images.de

Heute noch existiert die Official Monster Raving Loony Party und weiterhin stellt sie Kandidaten in diversen Wahlbezirken. Diese heissen Alan «Howlin' Laud» Hope (im Bild oben, in Weiss), The Flying Brick oder Hairy Knorm Davidson. In der Vergangenheit trat auch schon Tarquin Fin-tim-lin-bin-whin-bim-lim-bus-stop-F’tang-F’tang-Olé-Biscuitbarrel an (dessen Name sich auf einen Sketch von «Monty Python's Flying Circus» bezieht – ein Sketch, der ebendiese Loony Party parodiert. So schliesst sich der Kreis).

Ebenfalls für die Loony Party tritt aktuell auch Lord Buckethead an.

https://www.bmovienewsvault.com/2017/07/lord-buckethead-origin-of-great.html
lord buckethead grossbritannien politik official monster raving loony party
Bild: bmovienewsvault.com

Dieser laut Eigenbekunden «intergalaktische Weltraumherrscher» (sein Name und Kostüm entstammen der Science-Fiction-Kultkomödie «Hyperspace» von 1984) kandidierte bereits viermal in den UK General Elections: 1987 gegen Margaret Thatcher, 1992 gegen John Major, 2017 gegen Theresa May und erneut 2019 gegen Boris Johnson.

In seinem Wahlmanifest von 2017 versprach Lord Buckethead eine «strong, but not entirely stable leadership» – dies als Alternative zu Premierministerin Theresa Mays Wahlslogan, einer «starken und stabilen Führung» («strong and stable leadership»).

Bild
bild: getty

Des Weiteren umfassen seine Vorhaben unter anderem die Abschaffung des House of Lords («mit Ausnahme von Lord Buckethead»), kostenlose Fahrräder für alle «zur Bekämpfung von Fettleibigkeit, Verkehrsstaus und Fahrraddiebstahl», Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre und Einschränkung des Wahlrechts ab dem 80. Lebensjahr, ein Referendum darüber, ob es ein weiteres Brexit-Referendum geben soll oder nicht, Legalisierung der Jagd auf Fuchsjäger, die Verstaatlichung der Popsängerin Adele, die Verbannung der rechtsgerichteten Kolumnistin Katie Hopkins in die Paralleldimension «The Phantom Zone» oder die Einstellung der Waffenverkäufe an Saudi-Arabien (damit Grossbritannien Laserwaffen von Lord Buckethead kaufen kann).

Viele von Lord Bucketheads Programmpunkte decken sich mit denen von Count Binface (dies nicht zuletzt, weil der aktuelle Binface-Darsteller Jonathan Harvey sich früher hinter der Maske von Lord Buckethead verbarg).

. 04/05/2024. London, United Kingdom. Declaration Of London Mayoral Results At City Hall. Count Binface at the declaration of London Mayoral election results, City Hall, London. PUBLICATIONxINxGERxSUI ...
Bild: www.imago-images.de

«Graf Eimergesicht», nun, der zur Unterhauswahl 2019 antrat sowie zweimal als Bürgermeister von London kandidierte, setzt sich zudem für die Verstaatlichung von Modelleisenbahnen ein, für kostenlosen Breitbandzugang für alle sowie dafür, dass Piers Morgan bis 2030 emissionsfrei wird. Ausserdem propagiert er die Umbenennung der London Bridge in Phoebe Waller-Bridge sowie die «Umplatzierung des Händetrockners in der Herrentoilette des Pubs Crown and Treaty in Uxbridge an eine gescheitere Position».

Als Londoner Bürgermeisterwahlkandidat 2024 trat er für den Beitritt Londons zur Europäischen Union ein und für ein Verbot der Freisprechfunktion von Mobiltelefonen in der Öffentlichkeit (wer erwischt wird, muss sich ein Jahr lang jeden Tag die Verfilmung von «Cats» ansehen). Mit 24'260 Wahlstimmen lag Count Binface noch vor dem Kandidaten der Rechtsaussen-Partei Britain First, was Bürgermeister Sadiq Khan als «weiteren Grund, London über alles zu lieben» nannte.

Count binface sadiq khan london mayoral elections https://twitter.com/MailOnline/status/1786837375265509635
Bild: twitter

Aktuell kandidiert Count Binface im Wahlkreis Richmond and Northallerton gegen – jap, richtig geraten! – Premierminister Rishi Sunak. Unter anderem mit dem nicht komplett unpopulären Politvorhaben, alle Ministergehälter für die nächsten 100 Jahre an die Gehälter von Krankenpflegern zu koppeln. Und, ach ja, dafür, dass «laute Snacks aus Theatern verbannt» werden.

Während jeder dieser Kandidaten ein eigenständiges politisches Programm hat oder hatte, dienen sie rein durch ihre Existenz jener altehrwürdigen, noblen Tradition der Herabwürdigung und des Spottes selbstherrlicher Personen – ein schelmischer Reminder an das Establishment, wer in einer Demokratie wirklich das Sagen hat. Diese Haltung ist tief verankert in der Tradition Grossbritanniens; eines Landes, das sich einerseits weiterhin eine Monarchie leistet, andererseits sich selbstredend das Recht ausnimmt, ebendiese nach Belieben durch den Kakao zu ziehen. Analog verhält es sich mit der britischen Haltung gegenüber ihrem rigiden Klassensystem, gegenüber Machtpositionen oder Traditionen im Allgemeinen.

Oftmals ist eben Auslachen eine stärkere politische Waffe als rohe Gewalt. Aktuelles Beispiel: die Aktionsgruppe Led By Donkeys, die während einer Wahlkampfrede des Rechtsextremisten Nigel Farage ein Poster von Putin enthüllte.

Grossartiges Trollen. Grossartige Comedy. Aber auch ein knallharter Kommentar und ein unangenehmer Reminder an Nigel, dass er Putin als «den europäischen Politiker, den ich am meisten bewundere» bezeichnet (... ganz zu schweigen von den Gerüchten, dass ein Grossteil seiner Parteifinanzierung aus Russland kommt).

Spoiler: Nein, ich gab Prince Ankit Love EMPEROR OF INDIA nicht meine Stimme. Aber versucht war ich. Denn ja, Sadiq, es ist ein weiterer Grund, Grossbritannien zu lieben.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Herrlich absurde Schlagzeilen aus dem Vereinigten Königreich
1 / 23
Herrlich absurde Schlagzeilen aus dem Vereinigten Königreich
Die besten der besten Schlagzeilen, gefunden auf dem Twitter-Account Mental UK Headlines.

«Der Zoo trennt fünf Papageien, nachdem die Vögel dabei erwischt wurden, wie sie sich gegenseitig ermutigten, Gäste zu beschimpfen.»
quelle: twitter
Auf Facebook teilenAuf X teilen
«Wieder da? Oh je, oh je», sagt King Charles zu Truss
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
40 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Black Cat in a Sink
03.07.2024 12:42registriert April 2015
Was wäre die Politk ohne Satire? Leider hat die Schweiz keinen Sinn dafür und unsere Politiker (allen voran die aus Herrliberg und Umgebung) nehmen sich viel zu ernst.
463
Melden
Zum Kommentar
avatar
Der Micha
03.07.2024 11:40registriert Februar 2021
Wurde in England nicht mal ein Fußballvereinsmaskottchen tatsächlich Bürgermeister? Soweit ich das noch im Kopf habe, hat er sich auch nur zum Spaß aufstellen lassen und wurde dann tatsächlich gewählt. ^^
322
Melden
Zum Kommentar
avatar
slnstrm
03.07.2024 11:13registriert August 2023
Also... Ich finde schon, dass Satire zur Politik gehört und gehören sollte. Wenn das so ist, kann man auch Kultur daraus machen. Weiter so!
276
Melden
Zum Kommentar
40
    Frau zieht Klage gegen Jay-Z und Sean Combs zurück – Jay-Z verklagt nun sie

    Eine Frau, die den US-Rappern Sean «Diddy» Combs und Jay-Z sexuelle Übergriffe vorgeworfen hat, lässt ihre Zivilklage gegen beide Musiker fallen. Der Anwalt der Klägerin, Tony Buzbee, zog die im vergangenen Jahr vor Gericht in New York eingebrachte Klage am Freitag zurück. Ein Grund dafür wurde nicht genannt.

    Zur Story