Es waren ungewöhnliche Szenen, die sich im Ariake Gymnastics Centre in Tokio abspielten. Die Topfavoritinnen aus den USA erlitten im Teamfinal ein Waterloo, allen voran Simone Biles. Der 19-fachen Weltmeisterin war zum Auftakt der Sprung komplett missraten, nur mit Mühe konnte sie einen Sturz vermeiden. Als Folge davon zog sie sich zurück. Aus «medizinischen Gründen», wie USA Gymnastics mitteilte. Die Athletin selbst sprach von «Dämonen in ihrem Kopf.»
Official statement: "Simone Biles has withdrawn from the team final competition due to a medical issue. She will be assessed daily to determine medical clearance for future competitions."
— USA Gymnastics (@USAGym) July 27, 2021
Thinking of you, Simone! pic.twitter.com/QA1GYHwWTv
Ein Post in den sozialen Medien hatte nach der fehlerhaften Qualifikation bereits aufhorchen lassen. «Ich habe das Gefühl, dass ich manchmal die Last der ganzen Welt auf meinen Schultern trage», schrieb Biles auf ihrem Instagram-Kanal, dem knapp fünf Millionen folgen. Sie wisse, sie werde diese abwerfen und es so aussehen lassen, als kümmere sie das nicht. «Aber manchmal ist es wirklich hart. Die Olympischen Spiele sind kein Scherz.»
Offensichtlich schaffte es Biles bis zum Teamfinal (noch) nicht, diese Last abzuwerfen. Beim Malheur des Superstars ging ein Raunen durch die Halle, denn eine schwächelnde Biles kennt die Turnwelt nicht. Seit die 1.42 m grosse, im US-Bundesstaat Ohio aufgewachsene Amerikanerin 2013 gleich in ihrem ersten Jahr bei der Elite WM-Gold im Mehrkampf und am Boden geholt hat, ist sie der Massstab. Auch wenn ihr ein Wettkampf misslingt wie am Sonntag in der Qualifikation, ist sie noch immer die Beste.
Giulia Steingruber ist nicht bekannt für den Gebrauch von Superlativen. Wenn es um eine Einschätzung der Leistungen von Biles geht, gerät aber auch die 27-jährige Ostschweizerin ins Schwärmen. «Sie ist die Beste, die wir jemals haben werden», sagte sie vor Beginn der Spiele. «Es ist eine Ehre, mit ihr zu turnen.»
Bei der Frage nach der Grössten aller Zeiten sind sich alle einig, auch wenn ein gutes Dutzend Turnerinnen mehr Olympia-Medaillen als Biles (6) gewonnen hat und die Russin Larissa Latynina womöglich auch für sie unerreicht bleiben wird. Es schien, als wären Biles' Möglichkeiten grenzenlos, als gälten für sie andere Gesetzte der Schwerkraft als für Normalsterbliche.
Ein Doppelsalto mit dreifacher Schraube am Boden? Kein Problem für Biles. Einen Doppelsalto mit Doppelschraube als Abgang vom Schwebebalken? Biles macht ihn. Einen Jurtschenko mit einem gebückten Doppelsalto am Sprung? Auch den hat sie im Repertoire. Ob sie ihn in Tokio zeigen wird, darf nach ihrem Aussetzer im Teamfinal allerdings bezweifelt werden.
Zum Superstar war Biles 2016 aufgestiegen, als sie neben dem Team und dem Mehrkampf auch noch am Sprung und am Boden Olympia-Gold gewann. «Ich bin nicht der nächste Usain Bolt oder Michael Phelps, sondern die erste Simone Biles», sagte sie zwar, doch ihr Weg war vorgezeichnet. Wie ihre Vorgängerinnen Nastia Liukin und Gabrielle Douglas vergoldete auch sie ihre olympischen Erfolge. Inzwischen ist Biles eine eigene Marke, deren Wert auf einen tiefen siebenstelligen Betrag geschätzt wird.
Biles ist aber vor allem noch immer das Aushängeschild des amerikanischen Verbandes, bei dem seit Bekanntwerden des Falls Larry Nassar nach den Sommerspielen in Rio kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Auch Biles gehörte zu den mehreren Hundert Missbrauchsopfern des ehemaligen Teamarztes. Das Vertrauen in den Verband ist zerrüttet.
Erste Anzeichen, dass die letzten Jahre auch sportlich nicht spurlos an Biles vorbeigegangen sind, offenbarte ihr Auftritt an den Trials Ende Juni, als sie in einem Mehrkampf erstmals seit 2013 wieder eine Niederlage erlitt. Dass sie nun auch in Tokio ungewohnt fehlerhaft auftritt, wirft Fragen auf. Scheitert nach Tennisspielerin Naomi Osaka auch der zweite Superstar der Spiele? Auch die Japanerin hatte zuletzt mit psychischen Problemen zu kämpfen.
Für Biles folgen in den nächsten Tagen fünf weitere Chancen, noch immer kann sie zum Superstar der Geisterspiele von Tokio werden. Sofern sie ihre eigenen Dämonen besiegt. (sda)
Übrigens: Naomi Osaka ist noch nicht über die Depression weg! Schon nach wenigen Sekunden bei der Eröffnungsfeier war für mich klar, dass sie noch nicht so weit war. Habt ihr ihren Gesichtsausdruck gesehen??? Wie ein Roboter...