Mögen Romantiker hin und wieder mahnen, das Medaillenzählen sei unwichtig. Es gehe darum, dabei zu sein. Das sei der wahre olympische Geist. Das ist barer Unsinn. Die olympische Währung ist mehr denn je Gold und ein bisschen Kleingeld in Silber und Bronze.
Alles, was zählt, ist der Medaillenspiegel. So war es schon immer und so wird es immer sein. Diese populäre Weltrangliste der Länder ist eine nie versiegende Quelle des Patriotismus. Einmal mehr können wir an diesem Medaillenspiegel ablesen, dass die Schweiz eine der aussergewöhnlichsten Sportnationen ist. Kaum ein anderes Land ist, gemessen an Grösse und Bevölkerungszahl, so erfolgreich wie die Schweiz. Und nicht nur in olympischen Sportarten.
In der Vergangenheit hat es verschiedenste Erklärungen gegeben. Unter anderem den geografischen Vorteil für Triumphe im Wintersport und vorübergehend auch die Unversehrtheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit dem ungestörten Sportbetrieb. Das ist richtig. Tatsächlich waren wir in der Neuzeit nie so erfolgreich wie 1948 in London (20 Medaillen).
Das erklärt aber nicht, warum wir uns heute, in einer globalisierten Welt, in nahezu allen wichtigen Einzel- und Teamsportarten behaupten können. In einer Welt, in der so viele Länder so viel Geld in den Sport investieren wie noch nie. In Tokio 2021 steuern wir gar auf eine neue moderne Rekordmarke zu. Mehr Medaillen gab es zuletzt 1952 in Helsinki (3x Gold, 6x Silber, 6x Bronze). Der Konkurrenz durch die in den 1950er und 1960er Jahren einsetzende Globalisierung des Sportes mit neuen Sportnationen aus dem Osten (Ostblock, Japan, Korea, später China) waren wir vorübergehend nicht mehr gewachsen. Mehr als neun Medaillen waren es seit 1952 bei Sommerspielen nie mehr.
Ein Blick zurück erklärt uns, warum wir inzwischen wieder so erfolgreich sind. Die medaillenlosen Winterspiele von 1964 in Innsbruck, unsere grösste olympischen Pleite aller Zeiten, löst eine Schockwelle aus. Sie führt zu einer Revolution, zu einer tiefgreifenden Reorganisation, die unseren Sport wieder fit macht. Bereits 1972 folgen die «Goldenen Tage von Sapporo» mit zehn Medaillen. Gleich viele wie 1948 in St.Moritz.
Entscheidend ist bei dieser umfassenden Neuaufstellung die Erkenntnis, dass alle zusammenarbeiten müssen. Die zentrale Organisation – der Landesverband für Sport (heute Swiss Olympic) – wird gestärkt. Es ist eine auch mit staatlichen Mitteln geförderte, aber letztlich unabhängige oberste Sport-Behörde (eine Art «Polit-Büro»), die alle Interessen bündelt. Die Wirtschaft, Sportmedizin, technische Wissenschaften, Staat inkl. Armee und Sport zusammenzuführen versteht. Unsere Sportkultur ist seither eine Art «Schweiz AG», in der die verschiedensten Kreise ihren Beitrag zum Erfolg leisten.
Unsere Sportlerinnen und Sportler profitieren neben privatwirtschaftlicher Förderung (Sponsoring, Sporthilfe) von einer guten, auch durch staatliche und halbstaatliche Mittel finanzierte Infrastruktur (Armee, Eidgenössische Hochschule für Sport in Magglingen) und haben die Freiräume für die individuelle Entwicklung. Die Verbände (die eine ähnliche Rolle haben wie der Staat im richtigen Leben) unterstützen die Athletinnen und Athleten. Aber sie bevormunden und gängeln sie nicht, und wenn es hin und wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Funktionären und Sportlern kommt, so zeigt dies nur die Dynamik unseres Sportes.
Der Erfolg hat also viele Väter und Mütter, die in dieser «Sport AG Schweiz» zusammenfinden. Aber auch unser Bildungssystem, unsere Mentalität und der Vorteil, ein kleines Land zu sein, spielen eine Rolle. Unter unseren Olympia-Heldinnen und Helden sind alle soziale Schichten vertreten. Will heissen: Gerade auch solche aus sogenannt einfachen Verhältnissen, die nicht mit goldenen Löffeln im Mund auf die Welt gekommen sind. Reiche Eltern, also die Herkunft aus der Elite, sind in der Schweiz im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern keine Voraussetzung für eine Sportkarriere.
Wir haben ein Schulsystem, das auf der ersten Stufe für alle gleich ist. Wer bei uns talentiert ist, dem steht der Weg nach oben offen. Im Sport und im Beruf.
Diese Durchlässigkeit der Gesellschaft, die in vielen Ländern aufgrund der sozialen Gegensätze immer mehr verloren geht, ist ein wichtiges Erfolgsgeheimnis. Unter diesen Voraussetzungen gehen in der Schweiz verhältnismässig wenige Talente verloren.
Grosse Nationen – typisch dafür sind etwa die USA, Russland oder China – werden aufgrund ihres riesigen Potenzials dazu verführt, auf das «darwinistische Prinzip» zu setzen: Der Stärkste überlebt. Dabei gehen Hunderte von Talenten verloren. Wir aber tragen Sorgen zu unseren Sporttalenten. Bei uns gibt es im Sport wie im richtigen Leben eine zweite, dritte und womöglich vierte Chance. So gesehen ist die Schweiz so etwas wie ein «Sport Disneyland».
Da und dort wird gelegentlich mit dem Hinweis auf Nordamerika oder Deutschland das Fehlen einer «Gewinner-Mentalität» moniert. Dabei haben wir eine weit unterschätzte «Gewinner-Mentalität». In unserer Gesellschaft entwickelt sich auch eine gesunde Form des Patriotismus. Unsere Sportstars haben ein starkes, gesundes Selbstbewusstsein. Nicht ein so lärmiges wie die Amerikaner oder die Deutschen, die ihren Patriotismus gelegentlich wie ein Plakat vor sich hertragen. Sondern ein leises, in sich selbst ruhendes: Das Bewusstsein, dass wir gegen jeden in der Welt eine Chance haben.
Dass wir ein kleines Land sind, muss kein Nachteil sein. Unsere Sportlerinnen und Sportler haben Zugang zur weltweit wahrscheinlich besten Sportmedizin und müssen dafür nicht hunderte von Kilometern reisen wie in anderen Ländern. Und sie sind nicht dazu gezwungen, ihr vertrautes soziales Umfeld um der Trainingsmöglichkeiten und der Karriere willen zu früh zu verlassen.
Zu wenig gewürdigt wird oft das Organisationstalent: Unsere olympischen Expeditionen werden so gut organisiert, dass kaum Energie verloren geht, dass alles funktioniert und die Athletinnen und Athleten gerade bei einem internationalen Grossanlass wie den Olympischen Spielen ein optimales Umfeld haben. Unsere «Olympia-Generäle» (Ralph Stöckli) sind die Besten.
Das sportliche Potenzial eines Landes hängt also nicht nur von der Zahl seiner Einwohner ab. Wenn das so wäre, dann hätten wir gar keine Chance in der globalen Welt des Sportes. Viel wichtiger ist, was wir aus unserem Potenzial machen.
Was bedeutet Tokio 2021 für unseren Sport? Einen enormen Prestigegewinn. In diesen goldenen, silbernen und bronzenen Tagen wird die Bedeutung des Sportes wieder einmal erkannt und gepriesen. Die Politikerinnen und Politiker aller Couleur eilen herbei und werden den Sport in ihre Sonntags- und 1.- August-Reden einfliessen lassen.
Tokio 2021 ist die Chance, unseren Sport weiter zu stärken und die Infrastruktur zu verbessern. Es geht nicht mehr darum, bei Politik und Wirtschaft für die Organisation von Olympischen Spielen in unserem Land zu weibeln. Diesem Gigantismus haben wir abgeschworen. So wie wir nach Marignano 1515 den Versuch aufgegeben haben, eine europäische Grossmacht zu werden. Die immer wiederkehrenden Bewerbungen gehören zu unserem Sport wie das Glockengeläut zur Alpabfahrt. Sie dienen gewissen Kreisen in schön getäferten und klimatisieren Büros nur noch dazu, mit Studien, Projekten, Plänen und Konzepten Geld zu verdienen.
Tokio 2021 inspiriert und motiviert eine ganze Generation, hilft unserem Sport bei der Suche nach Werbegeldern aus der Wirtschaft und Fördergeldern aus den verschiedenen staatlichen Geldtöpfen, beim Ausbau von lokalen Infrastrukturen und von Leistungszentren und ist zudem ein Prestigegewinn für unsere Armee, die mit ihrer Sportförderung eine wichtige Rolle spielt.
Es liegt also in erster Linie an verschiedensten Vertreterinnen und Vertretern unseres Sportes, etwas aus Tokio 2021 zu machen, wenn das mediale Scheinwerferlicht und die TV-Kameras in ein paar Tagen vorübergehend wieder ausgeschaltet werden. Am 4. Februar 2022 beginnt mit den Winterspielen in Peking schon das nächste olympische Spektakel.
Die Spiele von 1956 sind von der Schweiz nach dem Einmarsch der Sowjets in Ungarn boykottiert worden – nur die Reiter beteiligten sich an den in Stockholm ausgetragenen Reitwettbewerben. Auch die Spiele 1980 in Moskau haben einzelne Sportverbände die Spiele boykottiert.