Wenn die Tage kürzer wurden, die Menschen die letzten sonnigen Tage des Jahres genossen, sich das Laub verfärbte und der Herbst einzog, dann war das in den letzten 20 Jahren auch das Zeichen, dass mit den Swiss Indoors Basel die grossen Festspiele des Schweizer Tennis anstanden.
Natürlich hatte das vor allem mit Roger Federer zu tun, der in Gehdistanz zur St. Jakobs-Halle aufgewachsen ist, erst Balljunge war und das Turnier später zehn Mal gewinnen sollte. Aber auch mit Stan Wawrinka, einem dreifachen Grand-Slam-Sieger, der sich auf Schweizer Boden oft schwertat. Oder mit Marco Chiudinelli, auch er ist in der Region aufgewachsen. Zuvor mit Marc Rosset, dem Genfer Olympiasieger von 1992 in Barcelona. Oder dem Romand Jakob Hlasek, der 1991 im Final John McEnroe besiegte.
Stan Wawrinka ist zwar immer noch aktiv, gehört im Alter von 39 Jahren und nach mehreren schweren Verletzungen aber längst nicht mehr zur Weltspitze. Jüngst gelang ihm in Stockholm erstmals in diesem Jahr mehr als ein Sieg in Folge. Gleiches gilt für Dominic Stricker, den jungen Berner, für den es die ersten zwei Siege auf der ATP-Tour in diesem Jahr waren. Beide stehen bei den Swiss Indoors nur dank einer Wildcard im Hauptfeld.
Es lässt sich nicht schönreden: Bereits zwei Jahre nach dem Rücktritt von Roger Federer gibt das Schweizer Tennis kein gutes Bild ab. Dazu passt die Nachricht von Mitte Oktober, dass man in der Weltrangliste in den Top 100 erstmals seit 46 Jahren (!) vergeblich nach dem weissen Kreuz auf rotem Grund sucht – und zwar sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen.
Martina Hingis war die erste Schweizer Grand-Slam-Siegerin. Die jüngste Nummer eins der Geschichte. Später wurde Roger Federer erst zum Nabel der Tenniswelt, dann zum globalen Superstar. Und Stan Wawrinka gewann gleich drei Grand-Slam-Turniere. Dank ihnen spielte die Schweiz auf der globalen Tennisbühne während dreier Jahrzehnte eine Hauptrolle. Belinda Bencic, Marc Rosset, Patty Schnyder, Jakob Hlasek oder Timea Bacsinszky besetzten immerhin reizvolle Nebenrollen. Nun ist die Schweiz in dieser Sportart gar kein Faktor mehr. Es ist eine schmerzhafte Erkenntnis.
Dabei hatten wir uns an die Erfolgsmeldungen gewöhnt, uns regelrecht an ihnen berauscht. Doch je wilder die Party, desto schlimmer der Kater.
Natürlich ist das eine Momentaufnahme. Natürlich hat es aus sportlicher Perspektive nicht geholfen, dass Belinda Bencic erstmals Mutter geworden ist. Natürlich ist Dominic Stricker nur deshalb ausser Rang und Traktanden gefallen, weil ihn Rückenprobleme ein halbes Jahr ausser Gefecht setzten. Natürlich kann die Welt in einem Jahr wieder viel freundlicher aussehen.
Federer war ein Ausnahmetalent, das beim Verband ausgebildet wurde. Martina Hingis und Belinda Bencic standen erstmals auf dem Tennisplatz, als sie kaum über die Netzkante sehen konnten. Stan Wawrinka gehörte als Junior nicht zu den Besten, verliess mit 15 sein Elternhaus und legte mit Trainer und Freund Dimitri Zavialoff im spanischen Castelldefels, einem Küstenort bei Barcelona, den Grundstein für seine Karriere.
Das alles sind Wege und Karrieren, die sich nicht beliebig reproduzieren lassen. Denn das Fundament ist nicht schlechter als früher. 2023 stieg die Zahl der Lizenzierten auf 52'951, was dem höchsten Wert seit zehn Jahren entspricht. Und es wurden auch deutlich mehr Turniere durchgeführt. Und auch die Zahl der Juniorinnen und Junioren ist erfreulich stabil.
Die Schweiz ist ein Land mit Vergangenheit als Einwandererland. In der Hochpreisinsel liess sich mit Tennislektionen gutes Geld verdienen. Das zog nach 1968 zahlreiche Exil-Tschechoslowaken in die Schweiz. Zu ihnen gehört auch Adolf «Seppli» Kacovsky, der in Basel Federers erster Trainer war. Wohlstand, Innovation und kurze Wege begünstigten das Schweizer Tenniswunder. «Als Kind ging ich meist mit dem Fahrrad, zu Fuss oder mit den Inlineskates zum Tennisplatz», erinnerte sich Martina Hingis einst.
Vielleicht hilft die Einsicht, dass Erfolg im Sport etwas Zufälliges hat und das Schweizer Tennis während Jahrzehnten über den Verhältnissen gelebt hat. Denn die Voraussetzungen für Talente sind nicht schlechter geworden.
Und diese – und das ist die gute Nachricht – sind durchaus vorhanden. Sie heissen Henry Bernet, Jérôme Kym, Flynn Thomas, Dominic Stricker und Leandro Riedi. Sie werden kaum in die Fussstapfen von Roger Federer oder Stan Wawrinka treten. Aber sie haben das Potenzial, dafür zu sorgen, dass die Swiss Indoors Basel wieder zu Schweizer Festspielen werden. (aargauerzeitung.ch)