Kurz vorm Jahreswechsel erregt Borussia Dortmund mit zwei Neuzugängen Aufsehen. Allerdings handelt es sich in diesem Fall um keine aktiven Spieler, sondern um zwei ehemalige Borussen, die nun zum Trainerstab von Edin Terzic stossen. Neben Sven Bender, der bis vor wenigen Tagen Co-Trainer der deutschen U17-Nationalmannschaft war, kehrt auch Nuri Sahin nach Dortmund zurück. Die beiden haben einst im Mittelfeld des BVB zusammen harmoniert und Kreativköpfen wie Mario Götze und Shinji Kagawa assistiert. Jetzt sollen sie dem angeschlagenen Cheftrainer Terzic unter die Arme greifen.
Besonders Sahins künftige Rolle im Trainerstab und generell innerhalb des Vereins könnte eine äusserst interessante werden. Um ab sofort als Co-Trainer für seinen früheren Jugendverein zu arbeiten, hat Sahin seinen Posten beim türkischen Erstligisten Antalyaspor aufgegeben, bei dem er zweieinhalb Jahre lang offiziell als «Head of Football» tätig war. In der Praxis fungierte Sahin als Trainer und Sportdirektor in einem.
«Wenn du in der Türkei der Trainer einer Mannschaft sein möchtest, musst du mit vielen verschiedenen Aufgaben im Klub umgehen. Sahin war so jemand», sagt der türkische Fussballjournalist Emre Özcan. Nach einem zweijährigen Intermezzo bei Werder Bremen liess Sahin seine Spielerkarriere bei Antalyaspor ausklingen und übernahm in dieser Zeit während einer sportlichen Krise im Spätsommer 2021 die Hauptverantwortung für die Erstligamannschaft, die in seiner ersten Saison einen formidablen siebten Rang erreichte.
«Die Saison 2021/22 wurde als wichtiger Erfolg wahrgenommen, denn das Team blieb die letzten 16 Partien der Spielzeit ungeschlagen», erklärt Özcan. «Die Rückrunde, die sie gespielt haben, beeindruckte jeden und ich denke, in dieser Zeit wurde Nuri Sahin zunehmend als Top-Trainer angesehen.» Zugutekam Sahin dabei wohl auch, dass er als Spieler 52 Länderspiele für die Türkei absolviert und neben dem BVB auch eine Spielzeit für Real Madrid gespielt hatte. Der Respekt war vorhanden, aber für gewöhnlich haben Trainer in der Süper Lig eine überschaubare Halbwertszeit. «Das grösste Problem war, dass er die Mannschaft nicht langfristig stabilisieren konnte, aber der Fakt, dass er für einen türkischen Klub zweieinhalb Jahre ohne jegliche Kontroversen tätig war, kann auf seine Weise als Stabilität betrachtet werden», so Özcan.
Nun macht er also den Schritt zurück zum BVB, für dessen Bundesligateam er einst mit 16 Jahren und 335 Tagen debütierte.
Rund 2'400 Kilometer entfernt von seiner langjährigen Heimat musste der einstige Mittelfeldspieler bei Antalyaspor jede Menge Verantwortung übernehmen. Er war für Transfers verantwortlich, ebenso für den Trainerstab und nicht zuletzt die Einstellung der Mannschaft auf die Spiele in der Süper Lig.
Interessanterweise wollte er mit seinen Spielern einen konstruktiven Ballbesitz-Fussball spielen – etwas, das dem BVB in dieser Saison schwerfällt. Er verlangte augenscheinlich von seinem Team in der Spieleröffnung flache Pässe von hinten raus, teilweise auch unter Einbeziehung des Torwarts, und schnelle Dreiecksbildung im Mittelfeld, damit der ballbesitzende Spieler ohne grosse Verzögerung das Spielgerät zu einem Mitspieler weiterleiten konnte. Darüber hinaus probierte Sahin einige taktische Kniffe wie etwa den Einsatz von inversen beziehungsweise einrückenden Aussenverteidigern.
Ambitionen auf Ballbesitzdominanz versiegten aufgrund der begrenzten Kaderqualität immer mal wieder, beispielsweise wenn es gegen die Schwergewichte aus Istanbul ging. «Sie spielten auch interessante Partien, wenn der Gegner den Ball hatte», erinnert sich Özcan. «Konkret: zu Beginn dieser Saison, als Fenerbahce einen grossartigen Saisonauftakt hinlegte, war es Antalyaspor, das Fenerbahce die meisten Schwierigkeiten bereitete. Sie verloren zwar das Spiel, aber zeigten ein wunderbares Pressing und schadeten dem Spielaufbau von Fenerbahce.»
Inwieweit Sahin in den kommenden Monaten taktische Ideen auch beim BVB einbringen kann und diese umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Es ist nicht auszuschliessen, dass der gebürtige Lüdenscheider zusammen mit Sven Bender zunächst für ein neues Gemeinschaftsgefühl in der Kabine sorgen soll. Einige Spieler, darunter Marco Reus, hatten sich zuletzt sehr kritisch gegenüber Terzic positioniert.
Auch das Verhältnis zwischen Terzic und Sportdirektor Sebastian Kehl ist unter anderem aufgrund von divergierenden Ansichten bezüglich der getätigten Transfers im Sommer angespannt. Ein Treffen zwischen dem Cheftrainer, dem Sportdirektor, Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und Berater Matthias Sammer kurz vor Heiligabend endete mit dem Resultat, dass Terzic und Kehl ihre Posten vorerst behalten dürfen.
Watzke ist bekanntermassen kein Befürworter von Trainerentlassungen während einer laufenden Saison. Dafür hat er ein gewisses Faible für Persönlichkeiten mit Stallgeruch und BVB-Gen. Gerade Sahin, der aus der Borussia-Jugend stammt, für die Dortmunder 274 Pflichtspiele bestritt und eine zentrale Figur in der Meistersaison 2010/11 war, passt geradezu perfekt ins Schema. Zudem hat Bayer 04 Leverkusen aktuell mit Xabi Alonso ebenfalls einen noch recht jungen Trainer, der ebenfalls einst ein Mittelfeldstratege war – und das ist ausserordentlich erfolgreich.
Terzic geniesst immer noch ein gesundes Mass an Rückhalt im Westfalenstadion, weil er einst selbst ein eingefleischter Fan war und als «einer von uns» gilt. Sahin stand hingegen bereits als Teenager auf dem Rasen und hat eine andere Verbindung zu den Anhängern des BVB. Geachtet wird er auf jeden Fall – und das sehr wahrscheinlich auch in der Kabine, wo mit Marco Reus, Mats Hummels und auch Niclas Füllkrug noch frühere Mitspieler von Sahin sitzen.
Die Verantwortlichen des BVB werden sich darüber im Klaren sein, was in die Rückkehr von Sahin hineininterpretiert werden wird. Ähnlich wie einst beim FC Bayern München, als Hansi Flick als Co-Trainer von Niko Kovac installiert wurde, wirkt es auch hier so, als stünde ein potenzieller Nachfolger für den aktuellen Cheftrainer bereit. Noch hat Sahin nicht die nötige UEFA-Pro-Lizenz, aber das sollte auf Sicht keine Hürde darstellen. Mehr wohl als bei allen anderen Bundesligisten werden in den kommenden Monaten die Interaktionen innerhalb des Trainerstabs, die Wortwahl in Interviews und vieles weitere genaustens unter die Lupe genommen.