Sport
Das Beste 2023

Die vergessene Frauen-WM von 1971 – ein Turnier der Rekorde

ARCHIVO HISTORICO / MexSport Seleccion de Mexico Femenil Photo of the national team, Nationalteam of Mexico Women Mexican Womens Team during the game Mexico vs Italy corresponding to the Semifinals of ...
Mexiko und Italien betreten im Halbfinal vor 100'000 Fans das Estadio Azteca.Bild: www.imago-images.de

110'000 Fans und Martini-Sponsoring – die vergessene Frauen-WM der Rekorde

Über 100'000 Zuschauer waren beim Final dabei und trotzdem erinnert sich kaum jemand an die Frauen-WM von 1971 – das sind die Gründe.
29.07.2023, 12:0218.12.2023, 16:33
Mehr «Sport»

Im April des vergangenen Jahres füllten 91'648 Fans das Camp Nou, als die Frauen des FC Barcelona im Champions-League-Halbfinal gegen Wolfsburg antraten. Überall wurde vom Weltrekord geschrieben – die meisten Zuschauerinnen, die je an einem Fussballspiel der Frauen mit von der Partie gewesen sein sollen.

Dabei gab es vor 52 Jahren eine – inoffizielle – Frauen-WM, die diesen Rekord alt aussehen lässt. 110'000 Fans waren beim Endspiel zwischen Gastgeber Mexiko und Dänemark dabei. Ein Turnier, das Rekorde sprengte. Ein Turnier, das seiner Zeit voraus war. Ein Turnier, das trotzdem wieder in Vergessenheit geriet.

Die Idee

Die späten 60er- und 70er-Jahre waren eine Zeit, in der Mann nicht gerne sah, wenn Frauen Fussball spielten – vor allem in Europa. Der Englische Fussballverband (FA) sah den Sport als «für Frauen ungeeignet» an und wies an, ihn nicht zu fördern. Auch der Deutsche Fussball-Bund (DFB) verbot den Frauen den Fussball. Die Begründung: «Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.»

Aber es gab Widerstand. In Europa wurde 1970 die Fédération Internationale et Européenne de Football Féminin (FIEFF) gegründet – ein unabhängiger Verband zur Förderung des Frauenfussballs. Schon im ersten Jahr ihrer Existenz organisierte die FIEFF eine Weltmeisterschaft in Italien. Sieben Teams nahmen teil und Dänemark holte sich den Titel mit einem 2:0-Finalsieg über Italien. Das Turnier war ziemlich erfolgreich – durchschnittlich sollen rund 30'000 Fans an die Spiele gekommen sein – sodass sich die FIEFF gleich an die nächste Austragung machte. Für 1971 wurde Mexiko als Gastgeber ausgewählt, weil dort die Infrastruktur nach der Austragung der Männer-WM ein Jahr zuvor bereits vorhanden war.

Xochitl, das Maskottchen der Frauen-WM 1971 in Mexiko.
Das Turniermaskottchen Xochitl soll einen grossen Anteil am finanziellen Erfolg der WM gehabt haben.Bild: FIFA MUSEUM

Ermöglicht wurde das Turnier wie schon ein Jahr zuvor vom italienischen Alkoholgetränk-Hersteller Martini & Rossi. Das Unternehmen sah grosses Marketing-Potenzial aufgrund der positiven Zuschauerzahlen und bezahlte den Teams 1971 nicht nur die Reise nach Mexiko und Unterkunft, sondern auch sämtliche Trikots und anderes Material. Sie offerierten auch die «Gold Trophy» für die Siegerinnen, die 100'000 Mexikanische Pesos Wert war.

Die Qualifikation

Als Gastgeberinnen musste sich Mexiko nicht für das Turnier qualifizieren. Aber in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent wurde um die Teilnahme gekämpft. Oder hätte gekämpft werden sollen. In Amerika war Argentinien das einzige Team in der Qualifikation, weil Chile und Costa Rica die Auflagen nicht erfüllen konnten. Damit war «La Albiceleste» ebenfalls kampflos dabei. In Europa wurde zwar gespielt, aber Spanien, Westdeutschland, die Tschechoslowakei, Belgien, Schweden und auch die Schweiz zogen sich zurück.

Englands Spielerinnen erinnern sich an die WM 1971.Video: YouTube/National Football Museum

So waren Dänemark, Italien, Frankreich und England, das die sportliche Qualifikation verpasste, aber aufgrund der Rückzieher nachrückte, die europäischen Vertreterinnen. Die Qualifikationspartie zwischen Frankreich und den Niederlanden war das erste von der FIFA anerkannte Frauenfussballspiel der Welt. Doch es ging vor 1500 Fans nicht ohne Kontroverse über die Bühne. Beide Teams waren sich gar nicht bewusst, dass die WM-Qualifikation auf dem Spiel stand. Die Französinnen erfuhren erst nach dem Sieg, was sie erreicht hatten, die Niederländerinnen gingen davon aus, ein Freundschaftsspiel zu absolvieren, und legten im Nachgang Protest ein – ohne Erfolg.

Das Turnier

Weil der mexikanische Verband allen Klubs, die ihre Stadien dem Turnier zur Verfügung stellten, mit Bussen drohten, gingen die Spiele im Estadio Azteca in Mexiko-Stadt und im Estadio Jalisco in Guadalajara über die Bühne. Beide Arenen befanden sich in Privatbesitz. Die Torpfosten wurden in Pink und Weiss gestaltet, um mehr Frauen und Familien anzusprechen.

Für das Eröffnungsspiel zwischen Mexiko und Argentinien fanden sich 100'000 Fans im legendären Azteca ein. Und auch sonst waren die Spiele gut besucht. Die Ticketpreise betrugen zwischen 30 und 80 Pesos – heute wären das weniger als fünf Franken –, lagen damit aber etwa im gleichen Bereich wie die Preise der Männer-WM ein Jahr zuvor.

Szenen aus dem Eröffnungsspiel zwischen Mexiko und Argentinien.Video: YouTube/AP Archive

Die Spielerinnen hatten allesamt Amateurstatus und viele von ihnen waren minderjährig – denn ältere Frauen waren oft gezwungen, mit dem Fussball aufzuhören, sobald sie im Erwachsenenalter eine Stelle antraten. In Englands Kader stand etwa die damals 13-jährige Leah Caleb. «Schon in den Wochen vor dem Turnier spürte man, dass hier etwas Spezielles entsteht», sagte sie.

Das Interesse am Turnier sei riesig gewesen: «Überall wollten die Leute Autogramme, wir hatten Polizei-Eskorten auf dem Weg zum Spiel und einmal wurde unser Bus angehalten, weil Fans uns allen die Hand schütteln und Geschenke geben wollten.» Es sei gewesen, als wären sie nach Narnia oder sonst irgendeine andere Welt transportiert worden, erzählte Englands damalige Mittelfeldspielerin Chris Lockwood 2018 der BBC.

Mit 13 Jahren spielte Leah Caleb für England an der WM 1971. Hier posiert sie in einem Trikot mit Turnier-Maskottchen Xochitl.
Mit 13 Jahren spielte Leah Caleb für England an der WM 1971. Hier posiert sie in einem Trikot mit Turnier-Maskottchen Xochitl.Bild: bbc/leah caleb

Während England mit zwei Niederlagen und acht Gegentoren chancenlos blieb, marschierte Mexiko in seiner Gruppe durch. In der zweiten Gruppe bewegten sich Dänemark und Italien auf Augenhöhe, während Frankreich sieglos ausschied. Im Halbfinal setzte sich Dänemark mit 5:0 gegen Argentinien durch und Mexiko bezwang Italien. So kam es im Final zum Duell zwischen den Gastgeberinnen und den Titelverteidigerinnen.

Ein Kassenschlager. Rund 110'000 Fans waren für das Endspiel im Stadion. «Es war so laut, wir hörten unsere eigenen Worte nicht mehr», erinnert sich die dänische Torhüterin Birte Kjems. Die Nordländerinnen brachten die Masse der Mexiko-Anhänger aber rasch zum Verstummen.

Ein Hattrick der 15-jährigen Stürmerin Susanne Augustesen sorgte für einen deutlichen 3:0-Sieg der Däninnen. «Doch nach Susannes drittem Tor hörten wir etwas sehr Seltsames», erzählt Kjems, «Applaus vom Heimpublikum. Uns wurde gesagt, dass es zum ersten Mal überhaupt im Azteca Applaus für den Gegner gab.» Dänemark verteidigte den Titel souverän.

Die Tore von Augustesen im WM-Final von 1971.Video: YouTube/jan bisp zarghami

Das Vermächtnis

Als die dänischen Weltmeisterinnen in Kopenhagen landeten, zeigte sich die allgemeine Bevölkerung begeistert. Nicht so die Männer beim Fussballverband. «Am Tag der Landung sagte uns Vilhelm Skousen, der damalige Präsident des dänischen Fussballverbandes: ‹Frauen werden bei uns nie aufgenommen werden, solange ich etwas zu sagen habe.› Willkommen zuhause», erinnert sich Torhüterin Kjems.

Tatsächlich ist es so, dass der dänische Fussballverband das Turnier und die Titel aufgrund des inoffiziellen Charakters bis heute nicht als Teil der eigenen Geschichte anerkennt. Finalheldin Augustesen spielte nie im 1972 gegründeten, offiziellen Nationalteam Dänemarks. Davon liess sie sich übrigens nicht aufhalten. 1974 wechselte sie nach Italien. Dort erzielte sie über 600 Tore in der höchsten Liga und war zwölf Mal Serie-A-Topskorerin.

Wie den siegreichen Däninnen geht es heute vielen anderen Teilnehmerinnen des «Campeonato de Fútbol Femenil». Sie sind in Vergessenheit geraten, weil die FIFA erst ab 1991 begann, offizielle Weltmeisterschaften für die Frauen auszutragen. Für das Turnier 20 Jahre früher hat es in den Archiven des Weltverbands keinen Platz.

Das Medieninteresse am Turnier in Mexiko war gross. Hier beim Gruppenspiel zwischen Mexiko und England.
Das Medieninteresse am Turnier in Mexiko war gross. Hier beim Gruppenspiel zwischen Mexiko und England.Bild: bbc/leah caleb

Bis heute ist die WM 1971 eines der wenigen profitablen Frauen-Turniere. Für Professorin Jean Williams beim englischen «National Football Museum» ist der Grund dafür klar: «Die Organisatoren hatten Erfolg, weil sie von Beginn weg von einem Erfolg ausgingen.» Die WM sei als gewöhnlicher Fussball-Grossanlass geplant und beworben worden – einfach einer, bei dem Frauen spielen. Fanartikel mit dem Maskottchen Xochitl seien extrem beliebt gewesen und die Organisatoren hätten alles unternommen, um den Event in die Zeitungen und TV-Stationen zu bringen.

Zuerst machten sich die Medien noch lustig über den Event und die Outfits der Spielerinnen. «Fussball wird sexy südlich der Grenze», schrieb die «New York Times». Doch je länger das Turnier dauerte, desto mehr konnten die jungen Frauen die Allgemeinheit von ihren Qualitäten überzeugen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Alle WM-Stadien in Neuseeland und Australien
1 / 12
Alle WM-Stadien in Neuseeland und Australien
Eden Park: Das grösste Stadion Neuseelands in Auckland ist Austragungsort des Eröffnungsspiels der WM und acht weiterer Spiele. Es fasst etwa 50'000 Menschen.
quelle: imago / imago images
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Alisha Lehmann und Co. duellieren sich im ultimativen Rate-Duell
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Rahmen übernimmt – YB hofft auf das Ende des Ex-Winti-Fluchs

Die Berner Young Boys können sich morgen zuhause gegen St.Gallen (20.30 Uhr) den Meistertitel sichern. Bereits vorher hat YB die eigene Zukunft an der Seitenlinie geregelt: Patrick Rahmen kommt im Sommer vom FC Winterthur und wird neuer Cheftrainer bei den Stadtbernern.

Zur Story