Timing ist alles – auch in der Dopinganalytik. Nicht selten gibt es vor Olympischen Spielen eine neuartige Anwendung von Nachweismethoden, um betrügende Athletinnen und Athleten auch dann zu erwischen, wenn es ums maximale sportliche Prestige geht. Sprintstar Ben Johnson wurde 1988 in Seoul so wegen Anabolika überführt, mehrere Langlauf-Olympiasieger 2002 in Salt Lake City wegen Epo. Bei beiden Fällen wähnten sich die Betrüger in falscher Sicherheit.
Genau umgekehrt, aber ebenfalls dank perfektem zeitlichem Ablauf, verlief eine nicht öffentlich bekannte Ansammlung von auffälligen Befunden an den Sommerspielen in Tokio. Bei Olympia und den Paralympics 2021 in Japan hätte es zu 80 vermeintlichen Dopingfällen kommen können. Dies war bislang nicht öffentlich bekannt.
Wie sich nun herausstellt, ist es dazu nicht gekommen. Denn diesmal war der Täter nicht ein betrügender Sportler, sondern ein Sonnenschutz. Einige Crémes enthalten den Wirkstoffzusatz «Chlorphenesin». Dieser führt im Körper zum exakt gleichen Abbauprodukt «4-CPA» wie das im Sport verbotene Stimulans «Meclofenoxat».
Dass es in Tokio nicht zu aufsehenerregenden Dopingvorwürfen kam, verdankt man einer Forschungskooperation zwischen der US Anti-Doping Agentur, dem Institut für Biochemie der deutschen Sporthochschule Köln, mit Unterstützung der Nada Deutschland, sowie den Antidopinglabors von Los Angeles und Tokio. Diese fanden nicht nur den Zusammenhang zwischen Sonnencrème und Stimulans, sondern den entscheidenden Unterschied im Muster des Abbauprodukts für die Herkunftsbestimmung von 4-CPA.
Die Arbeit wurde zwar erst nach den Spielen im Herbst publiziert, die ihr zugrunde liegenden Daten jedoch standen wenige Tage vor dem Entfachen des olympischen Feuers zur Verfügung.
Sportlerinnen und Sportler dürfen sich also künftig weiterhin Sonnencrème ins Gesicht schmieren, ohne dabei bereits als Doper zu gelten. Ungelöst bleibt hingegen die Problematik von verunreinigten Lebensmitteln oder Arzneimitteln ohne Dopinghintergrund. Hier führen die ständig verfeinerten Prüfmethoden von Urin- und Blutproben zu zunehmenden Fällen unbeabsichtigter positiver Tests.
Weil im Dopingrecht die Athleten ihre Unschuld beweisen müssen, führt dies zu aufwändigen und teuren wissenschaftlichen Abklärungen und Gerichtsfällen. Und weil so zugleich die Palette an möglichen Ausreden von wirklichen Betrügern vergrössert wird, entsteht oft eine höchst unbefriedigende Situation.
Einerseits kann die Dopinganalytik inzwischen kleinste Mengen von bekannten Fremdstoffen im menschlichen Körper nachweisen. Andererseits reduziert sich das anschliessende juristische Verfahren immer wieder auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit: Glaubt man der Begründung des Sportlers oder nicht?
Auch beim spektakulären Dopingfall der russischen Eiskunstläuferin Kamila Walijewa an den Olympischen Winterspielen in Peking geht es um die Frage, ob die 15-Jährige bewusst mit dem Herzmittel «Trimetazidin» gedopt wurde, um den Blutfluss und damit die Ausdauer zu steigern. Oder ob das bedauernswerte Mädchen tatsächlich nur aus dem gleichen Glas getrunken hat wie sein herzkranker Opa?
Eine wissenschaftliche Arbeit in Zusammenarbeit den Antidopinglaboren von Köln und Lausanne macht nun einen spannenden Vorschlag, wie man solche Fragen mit grosser Wahrscheinlichkeit bestätigen oder entkräften könnte.
Bei den Spielen in Peking wurde erstmals die sogenannte Testvariante des «Dried Blood Spots (DBS) angewandt. Diese wurde von Antidoping Schweiz mitentwickelt und ist erst seit letztem September offiziell zugelassen. Dabei wird ein Bluttropfen vom Finger auf ein Löschblatt abgegeben und so konserviert.
Seit den ersten Feldversuchen vor rund zehn Jahren hat man die Möglichkeiten dieser Methode kontinuierlich verbessert. Inzwischen gelingt so der Nachweis für viele im Sport verbotene Stoffe, zum Beispiel eben auch Trimetazidin. Neben vielen Vorteilen im Vergleich zu herkömmlichen Blutentnahmen gibt es eine grosse Chance. Man kann die ehrlichen Sportler viel besser von den betrügenden Athleten unterscheiden.
Mario Thevis, der Leiter des Zentrums für präventive Dopingforschung in Köln, sagt, dass eine regelmässige, proaktive Abgabe eines Bluttropfens den Sportler vor den Folgen einer unwissentlichen Einnahme von Dopingsubstanzen schützen kann. «Man müsste dazu das aktuelle System anpassen. Regelmässige DBS-Proben, die zusätzlich beispielsweise alle ein bis zwei Wochen von den Athletinnen und Athleten abgegeben werden, können bei Bedarf fragliche Lücken im analytischen Gesamtbild schliessen», macht Thevis ein Beispiel.
Und der Verlauf der Werte würde unter anderem zeigen: Ist das böse Umfeld der Eiskunstlauf-Prinzessin oder doch der liebe Grossvater schuld daran, dass die ganze Welt bei Olympia mit dem Finger auf ein 15-jähriges Mädchen zeigte. Täter oder Opfer? Ein paar Blutstropfen können diese Frage beantworten.