Im Missbrauchs-Skandal rund um das kanadische U20-Eishockey-Weltmeisterteam von 2018 rückt die Gerichtsverhandlung näher. Gegen vier NHL-Spieler und Alex Formenton vom National-League-Klub HC Ambri-Piotta wurde offiziell Anklage wegen sexueller Nötigung erhoben. Bis zu einem Urteil könnte es trotzdem noch länger dauern.
Vor knapp zwei Jahren wurde die kanadische Hockeywelt von einem Skandal erschüttert, der über den eigentlichen Missbrauchsfall hinausging.
Eine junge Frau hatte im April 2022 beim Ontario Superior Court Anklage gegen acht Spieler der kanadischen Nachwuchsliga CHL, fünf davon Mitglied des U20-Weltmeisterteams von 2018, erhoben. Die beschuldigten Spieler sollen die junge Frau nach einer Benefiz-Gala des kanadischen Hockeyverbands im Sommer 2018 sexuell missbraucht haben.
Gerichtsdokumente beschreiben, dass die Klägerin an der Benefiz-Gala ein Mitglied des Weltmeisterteams von 2018 kennenlernte. Sie gingen in ein Hotelzimmer und hatten einvernehmlich Sex, doch danach lud der Spieler entgegen dem Willen der Frau sieben weitere Männer auf das Zimmer ein, um weitere sexuelle Handlungen auszuführen. Das mutmassliche Opfer sei daran gehindert worden, das Hotel zu verlassen und sei ausserdem gezwungen worden, vor laufender Kamera auszusagen, dass sie nicht unter Alkoholeinfluss gestanden und alles einvernehmlich passiert sei.
Im Zuge dieser Anklage kamen weitere Fälle sowie Versäumnisse des kanadischen Hockeyverbands ans Licht. So hat Hockey Canada unter anderem Mitgliederbeiträge verwendet, um aussergerichtliche Abfindungen zu bezahlen.
Diese Ereignisse warfen nicht nur in Kanada, sondern auch im Ausland hohe Wellen und beschäftigten im nordamerikanischen Land, wo Eishockey einen hohen Stellenwert hat, auch die Politik. Premierminister Justin Trudeau hielt damals fest: «Es ist aktuell sehr schwierig für Kanadierinnen und Kanadier, Vertrauen in irgendjemanden bei Hockey Canada zu haben.»
Ambri-Stürmer Alex Formenton, Carter Hart (Goalie, Philadelphia Flyers), Dillon Dubé (Stürmer, Calgary Flames) und Cal Foote (Verteidiger, New Jersey Devils) wurden wegen sexueller Nötigung angeklagt. Michael McLeod (Stürmer, New Jersey Devils) wurde wegen sexueller Nötigung und Anstiftung zur sexuellen Nötigung angeklagt.
New: Court documents obtained by @TSN_Sports and @CTVNationalNews confirm Dillon Dube, Alex Formenton, Carter Hart, Michael McLeod and Cal Foote have all been charged with sexual assault.
— Rick Westhead (@rwesthead) February 1, 2024
"Dillon Dube on or about the 19th day of June in the year 2018 at the City of London in the… pic.twitter.com/4JCzU3DeDw
Das mutmassliche Opfer – in den Gerichtsdokumenten nur E.M. genannt – hatte sich bereits 2018 am Tag nach dem mutmasslichen Missbrauchsvorfall über ihre Familie und den kanadischen Hockeyverband bei der Polizei von London, Ontario gemeldet. Etwas mehr als ein halbes Jahr später beendete die Polizei ihre Ermittlungen, ohne dass es zu einer Anklage kam.
Erst 2022 nahmen die Behörden die Ermittlungen aufgrund des grossen Drucks der Öffentlichkeit und der kanadischen Politik wieder auf. Ein neues Ermittlerteam fand genügend Beweise, um im Frühling 2023 beim Gerichtshof von Ontario einen Antrag auf ein Gerichtsverfahren wegen sexueller Nötigung einzureichen. Im Rahmen der Pressekonferenz vom späten Montagabend entschuldigte sich Polizeichef Thai Truong, der 2018 noch nicht bei der Polizei von London arbeitete, für die Versäumnisse von damals.
Alle fünf angeklagten Spieler verlangten vor etwas mehr als einer Woche von ihren Teams eine Beurlaubung, um sich «um persönliche Dinge zu kümmern». Seither wurden Formenton, Hart, Dubé, McLeod und Foote offiziell angeklagt. Wiederum veröffentlichten alle fünf Spieler über ihre Anwälte ein Statement, in dem sie ihre Unschuld beteuerten und ankündigten, diese energetisch zu verteidigen.
Lawyers for Michael McLeod say the New Jersey Devils forward has been charged with sexual assault and that he will plead not guilty. pic.twitter.com/7AXyYZzUrs
— Rick Westhead (@rwesthead) January 30, 2024
Die Polizei von London, Ontario sagt ehrlicherweise nicht viel Neues – abgesehen von der oben erwähnten Entschuldigung von Polizeichef Truong an die Klägerin. Viele der Fragen der anwesenden Journalisten drehten sich um die Gründe, warum die erste Ermittlung von 2018 keine Resultate erbrachte. Truong und Ermittlerin Katherine Dann gingen darauf nicht ein, weil die Antworten Teil des laufenden Gerichtsverfahrens seien.
Der HC Ambri-Piotta kommunizierte am Montagabend, dass Alex Formenton aufgrund der Anklage vorübergehend in Kanada bleibe, «um seine Verteidigung zu organisieren».
Am 14. Dezember 2022 verpflichtete Ambri Alex Formenton, nachdem dieser trotz seiner 18 Tore in der vorherigen NHL-Saison weder bei den Ottawa Senators noch bei den anderen 31 Teams einen Vertrag erhalten hatte. Präsident Filippo Lombardi glaubt allerdings nicht, dass die Leventiner durch die Verpflichtung einen Image-Schaden erlitten haben.
«Wir ersetzen die Justiz nicht und erlauben uns nicht zu sagen, ob ein Mensch schuldig ist oder nicht. Ich glaube nicht, dass wir etwas falsch gemacht haben», erklärte Lombardi dem TV-Sender MySports. Die Verpflichtung sei ein Risiko gewesen, aber ein berechnetes Risiko. «Wir haben gewusst, es gibt eine offene Frage, aber Formenton wurde freigesprochen in einer ersten Untersuchung», sagte der HCAP-Präsident.
Diese Aussage ist allerdings nicht ganz korrekt. Da es in der ersten Untersuchung der Londoner Polizei zu keiner Anklage kam, kam es folglich auch zu keinem Freispruch.
In dieser Woche hat das Gerichtsverfahren in diesem Fall mit einer ersten Verhandlung begonnen. Dabei tauchten die angeklagten Spieler nicht auf, deren Anwälte wurden per Videokonferenz zugeschaltet. Die nächste Verhandlung wurde erst auf den 30. April terminiert. Bis dahin haben die Verteidigungsanwälte Zeit, die Beweisdokumente zu analysieren und ihre Strategien festzulegen.
Bis der tatsächliche Prozess beginnt und ein Urteil feststeht, könnte es noch deutlich länger dauern. Die Gerichte in der kanadischen Provinz Ontario kämpfen seit der Covid-Pandemie mit starken Verzögerungen. Experten erwarten ein Urteil frühestens im Jahr 2026.
Im Fall von sexueller Nötigung sind in Kanada – je nach Formulierung der Anklage – Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren möglich. Ersttäter können allerdings auf eine Milderung und Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren hoffen.
A woman referred to in court documents as "E.M." claimed she was repeatedly assaulted by 8 players while intoxicated in a hotel room following a Hockey Canada Foundation gala and golf event in London, Ont., in June of 2018. https://t.co/BwUbvlCsQx
— Rick Westhead (@rwesthead) May 26, 2022
Here is my statement regarding the ongoing Hockey Canada investigation: pic.twitter.com/bE3WnuxyLU
— Victor Mete (@vmete98) June 30, 2022
⚪️🔵L’Hockey Club Ambrì-Piotta ha il piacere di annunciare l’ingaggio dell’attaccante Alex Formenton fino al termine della stagione 2022/2023✅
— HC Ambrì Piotta (@HCAP1937) December 14, 2022
Benvenuto in biancoblù Alex!
👇🏻https://t.co/lf2XT4r9kR pic.twitter.com/sS6XDMQRSK
Alex Formenton was seen entering the London Police station on Sunday. This comes on the heels of a Globe and Mail report that 5 members of Canada's 2018 WJC team were told to surrender to police in London, Ontario, related to a group sexual assault.
— Ahmar Khan (@AhmarSKhan) January 28, 2024
My TV story tonight: pic.twitter.com/3zunPQbwvA