Eishockey ist ein Schauspiel, das live am meisten Spass macht. Richard Wagners «Walküre» ist im Opernhaus etwas ganz anderes als in einer TV-Übertragung. Jedes Spiel wird heute live vom Farbfernsehen übertragen. Es wäre möglich, zu Hause zu bleiben. Doch seit die Pandemie vorüber ist, strömen mehr Fans in die Stadien als je zuvor in der Geschichte. Es ist, wie es ist: Nach einer Krise geht es noch wilder zu und her als vor einer Krise. Im Guten wie im Bösen. Das war schon immer so, das ist heute so, das wird immer so sein.
Die National League erlebt einen Jahrhundert-Boom. Noch haben alle Klubs ein Heimspiel ausstehend und schon steht der neue absolute Zuschauerrekord: 2'441'917 Tickets sind im Laufe der Qualifikation verkauft worden. In der letzten kompletten Saison (2018/19) vor der Pandemie waren es 2'084'688. Nun kommt noch je eine Heimpartie hinzu.
Diese Saison haben also mehr als eine halbe Million mehr Fans ein Ticket gekauft. Auch der Schnitt pro Spiel ist höher als vor der Pandemie: 6977 pro Partie. Die Rekordmarke steht bei 7026 pro Spiel aus der Saison 2015/16. Aber insgesamt kamen damals in der erst 12 Teams umfassenden NLA bei 25 Heimspielen insgesamt «nur» 2'107'778 Zusehende, was ebenfalls einen bisherigen Bestwert darstellt.
Für diesen Boom gibt es im Wesentlichen fünf Gründe.
Die Aufstockung auf 14 Teams. Logisch: Mehr Spiele ergeben letztlich mehr Publikum. Diese Saison werden in der Qualifikation 364 Partien ausgetragen. Rekord. Letzte Saison waren es erst 334.
Der Ausbau der Infrastruktur. In Biel, Zug, Lausanne, Pruntrut, Zürich, Fribourg und Ambri sind neue Stadien gebaut worden. Mit dem Komfort steigt der Erlebniswert und es gelingt, neue Fans anzulocken. Wer einmal im Stadion war, kehrt wieder.
Die Ausgeglichenheit der Liga. Wir können tagelang über das Niveau des Spiels diskutieren und fehlende Intensität, die zu hohe Anzahl Ausländer kritisieren oder sonstige fachliche Kritik anbringen. Das Publikum interessiert sich nicht dafür. Das Publikum will Drama. Es muss «um etwas» gehen. Oder wie es der grosse Heinrich Heine einmal gesagt hat: «Vergnügen ist nichts anderes als ein höchst angenehmer Schmerz». Dieser Schmerz ist das Hoffen und Bangen, das Leiden und Zittern mit dem eigenen Team. Drama, Baby, Drama. Noch nie hat es davon so viel gegeben wie diese Saison. Das Hoffen und Bangen, das Leiden und Zittern geht auch zwei Spiele vor Schluss unvermittelt weiter.
Das Niveau. Das Lauf- und Tempohockey der National League bietet nach der NHL die beste Unterhaltung. Die Partien der National League sind im Durchschnitt wesentlich attraktiver als das gut strukturierte, taktisch geprägte Spiel in Schweden und Finnland. Dass sich unsere Klubs in der Champions Hockey League gegen die taktisch überlegenen Skandinavier nicht durchsetzen können, hat keinerlei Einfluss auf das Publikumsinteresse an der nationalen Meisterschaft.
Die Erhöhung von vier auf sechs Ausländer. Sie ist der Schlüssel zur Ausgeglichenheit. Sechs gute Ausländer können ein durchschnittliches Team besser machen und durch die ganze Qualifikation tragen. Vier sind dazu nicht in der Lage. Diese Erhöhung ist eine Herausforderung für die Sportchefs. Wer bei der Rekrutierung des ausländischen Personals versagt, wird dafür bestraft. Welche längerfristigen Auswirkungen diese Erhöhung auf sechs Ausländer auf unser Hockey und auf die wirtschaftliche Stabilität der Klubs haben wird, ist ein ganz anderes Thema. Kurzer Wahn, lange Reue? Wir wollen jetzt nicht grübeln. Drama, Baby, Drama.
Der Boom wird aus drei Gründen weitergehen.
Der SC Bern. Die Klubs dürften nächste Saison den aktuellen Schnitt halten können und der SCB als Publikums-Krösus wird nicht ewig in der Krise verharren. Mittelfristig werden die Berner wieder mehr als 16'000 Fans pro Spiel anlocken. So wie zuletzt in der Meistersaison 2018/19.
Neuer Modus. Eine stimulierende Wirkung dürfte auch der neue Modus haben. Ab nächster Saison gibt es keine Pre-Playoffs mehr. Sondern Play-ins. Die gehen so: 7. gegen 8. und 9. gegen 10. Hin- und Rückspiel. Bei Gleichstand unabhängig vom Torverhältnis Verlängerung im 2. Spiel. Es ist also möglich, dass das Hinspiel unentschieden endet. Erstes Spiel beim schlechter klassierten Team. Der Sieger aus 9. gegen 10. ist aber noch nicht in den Playoffs. Der letzte Platz in den Playoffs wird zwischen dem Verlierer 7. gegen 8. und dem Sieger 9. gegen 10. mit Hin- und Rückspiel ermittelt.
Weltpolitische Lage. Die grossrussische KHL wird auch in den nächsten Jahren keine Konkurrentin auf dem Spielermarkt sein. Auch dann nicht, wenn der Ukraine-Krieg beendet wird. In den nächsten fünf bis sieben Jahren werden die Arbeitsplätze in der National League neben jenen in der nordamerikanischen NHL weiterhin die attraktivsten sein und das sportliche Niveau der Liga kann gehalten werden. Die höchste schwedische Liga ist bei der Verpflichtung der ausländischen Spieler die härteste Konkurrentin.
Der Boom hat allerdings eine gefährliche Schattenseite. Der National League geht es so gut und sie ist im ersten Jahr der Selbständigkeit (juristisch vom Verband gelöst), dass der «Klub-Egoismus» immer grösser und die Rücksicht auf die Gesamtinteressen unseres Hockeys ständig kleiner wird. Eine Reduktion der höchsten Liga von 14 auf 12 Teams, um die Basis (die Swiss League) zu stärken, ist in weite Ferne gerückt.
Das Darben der zweithöchsten Spielklasse (Swiss League), die auf der entscheidenden Stufe (17 bis 22 Jahre) aus dem Ruder gelaufene Nachwuchsmeisterschaft (die besten Talente «fliehen» nach Nordamerika und Skandinavien), die hausgemachten Probleme im Amateurhockey, Coaches und Sportchefs, die jungen Talenten keine Chance geben, Auflösung von Farmteams, der Trend, die Mehreinnahmen nicht in die Ausbildung, sondern in die Spielerlöhne zu investieren – das sind alles Faktoren, die unser Eishockey mittelfristig in die Bredouille bringen werden.
Auch hier gilt: Kurzer Wahn, lange Reue. Aber wir wollen nicht Grübeln. Drama, Baby, Drama.