In einem Hollywood-Film über Ambri wäre Tommaso De Luca der Hauptdarsteller. Ein wenig wie Leonardo DiCaprio in «Titanic». Aber natürlich mit einem Happy End. Es ist die Geschichte eines unbeschwerten, ja fröhlichen jungen Mannes – eigentlich noch ein Teenager –, der eine Gruppe von gestandenen, teilweise wilden Männern in einer schwierigen Situation zu einem sensationellen Sieg führt.
Mit einer Story, die gerade umgekehrt läuft wie «Titanic»: Am Anfang deutet alles auf Untergang, am Ende gibt's ein Happy End. Seine Geschichte ist auch eine dringende Mahnung an alle Trainer. Gebt den Jungen eine Chance! Sie können gerade in einer entscheidenden Phase der Meisterschaft sehr oft mehr bewirken als hastig eingeflogene drittklassige Ausländer oder mutlose Schweizer Stars.
Ein Sieg in Bern scheint für Ambri schier unmöglich. Beim SCB ist eine heftige Reaktion auf das 1:4 vom Vorabend in Zürich zu erwarten. Dafür wird der gestrenge taktische Zuchtmeister Jussi Tapola schon sorgen. Ambri ist nach einem 1:3 auf eigenem Eis gegen die Lakers verunsichert. Kommt dazu: Der finnische Torhüter Janne Juvonen ist krank und Davide Fadani muss ihn vertreten. Der 23-jährige Italiener mit Schweizer Lizenz muss zum ersten Mal in dieser Saison gleich von Anfang an ins Tor. Aber es kommt alles ganz anders als erwartet.
Das Spiel beginnt für Tommaso De Luca wenig verheissungsvoll. Zum ersten Eintrag aufs Matchblatt kommt er in der 16. Minute: Ambri kassiert eine Strafe wegen zu vielen Spielern auf dem Eis und er wird von Trainer Luca Cereda dazu bestimmt, die Strafe abzusitzen. «Weil ich nicht fürs Defensivspiel tauge und in einer solchen Situation der Mannschaft sowieso nicht helfen kann.» Wo er recht hat, hat er wohl recht: Er taugt nicht fürs Defensivspiel. Bern gelingt in der 22. Minute endlich der Ausgleich zum 1:1. Ausgangspunkt des Unheils ist ein Fehler von Tommaso De Luca. Alle Zeichen stehen auf einen Untergang der Tapferen aus der Leventina.
Aber es ist der Anfang einer magischen Hockeynacht für Ambri und für Tommaso De Luca. Am Ende steht ein Verlängerungssieg (5:4) für Ambri. Tommaso De Luca ist mit drei Toren (zum 1:2, 3:3 und 3:4) der Hauptdarsteller. Sein erster Karriere-Hattrick in seiner ersten NL-Saison. Seine Treffer Nummer 7, 8 und 9. Ausgerechnet in Bern. Vor der grössten Stehrampe der Welt (16'773 Fans sind gegen Ambri da), die von unten, vom Eis her betrachtet, wie eine drohende Wand wirkt und junge Spieler schon mal einschüchtert.
Nach der Partie dreht sich – natürlich – alles um Tommaso De Luca. Noch 20 Minuten nach Spielschluss steht er im Bärengraben – dem grossen Innenraum zwischen den beiden Kabinen – und gibt fröhlich, freundlich und schlagfertig Auskunft. Er strahlt eine wundersame Mischung aus Selbstvertrauen und Unbeschwertheit aus. Und dann fällt der Blick auf seine Füsse. Wie üblich bei Interviews steht er nicht mehr in Schlittschuhen. So wird sichtbar: Seine Socken haben riesige Löcher.
Diese Löcher sind dem Aberglauben geschuldet. Der Aberglaube ist ein fester Bestandteil der Hockey-Kultur. Tommaso De Luca erklärt: «Ich trage im Spiel seit drei Jahren die gleichen Socken.» Lacht und fügt an: «Nun werde ich sie wohl nie mehr wechseln …» Es ist ja kein Problem, die Dinger auch dann zu trocknen, wenn zwei Spiele in 24 Stunden anstehen und wenn erforderlich, hilft der Materialwart beim Flicken.
Der Held des Abends erlaubt, von seinen Socken mit dem Hosentelefon ein fotografisches Dokument zu erstellen. Auch das ist seinem Erfolgsgeheimnis – der jugendlichen Unbeschwertheit – geschuldet. Normalerweise fragt ein Spieler in dieser Situation erst den Medienchef, ob man da ein Bild machen dürfe. Der Medienchef sichert sich gleich noch beim Sportchef ab, der den General Manager um Erlaubnis bittet und der General Manager holt noch die Bewilligung beim Verwaltungsrat ein. Und dann ist es zu spät für ein Handy-Foto.
Sein Aberglaube steht im Gegensatz zum nüchternen Stil seines Trainers Luca Cereda, der zu den Ausnahmeerscheinungen gehört, die wenig von Aberglauben halten. Auf die Frage, was er von der Sockenmagie seines Wunderkindes halte, reagiert er überrascht. «Das wusste ich gar nicht.» Er sei halt nicht abergläubisch. Es gebe Trainer, die immer die gleiche Krawatte oder die gleiche Jacke tragen. «Das hat mich noch nie interessiert. Für mich ist bequeme Kleidung wichtig …»
Nun ist es Ambris Trainer in der schicken Klub-Jacke dank Tommaso De Luca noch ein wenig wohler und er sagt über seinen jungen Stürmer: «Er hat sein riesiges Potenzial noch gar nicht ausgeschöpft.» Zu diesem Potenzial gehört die Leichtigkeit des Seins, die grosse Skorer auszeichnet: Tore nicht erzwingen. Tore herausspielen. Eishockey ist in seinem wahren Wesen immer noch ein Spiel und nicht mühselige Arbeit.
Es obliegt auch dem Trainer, Talente wie Tommaso De Luca richtig einzusetzen. Den Fehler, der zum 1:1 führt, hat Luca Cereda nicht kritisiert. «Es hätte nichts gebracht, wenn ich ihn auf der Bank zusammengestaucht hätte. Ich hätte ihm nur die Unbeschwertheit und Freude genommen.» Und wie wir wissen, hat der junge Italiener den Fehler mit drei Treffern korrigiert.
Tommaso De Luca lebt seit 2017 mit den Eltern und seinem Bruder Jacopo (16, spielt bei Ambris Junioren) in Biasca. Die Anforderungen für eine Einbürgerung hätte er im letzten August erfüllt: Fünf Jahre im Kanton Tessin wohnhaft, drei davon am selben Ort, dazu insgesamt zehn Jahre in der Schweiz. Bei Jugendlichen werden die Jahre zwischen 8 und 18 doppelt gerechnet. Aber er hat die letzte Saison (2022/23) in den USA bei den Spokane Chiefs in der Western Hockey League gespielt. Die sieben Monate in den USA werden ihm für die Einbürgerung nicht angerechnet. Den Pass bekommt er erst in diesem Jahr.
Deshalb stand er für die U-20-WM nicht zur Verfügung und er hat sich nun für eine Karriere im italienischen Nationalteam entschieden. Gut für Italien, nicht gut für die Schweiz. Immerhin ist klar: Er wird auch nächste Saison für Ambri stürmen. Sein Vertrag läuft bis 2025. Plus Option für ein weiteres Jahr.
Und was war mit dem SCB? Wir können uns mit wenigen Worten begnügen: Das Defensiv-System, das Jussi Tapola in mühseliger täglicher Detailarbeit den Bernern diese Saison beigebracht hat und eine Entwicklung ermöglicht, an deren Ende eigentlich der nächste Meistertitel stehen sollte, mahnte gegen Ambri an die Socken von Tommaso De Luca: voller Löcher. Der SCB braucht dringend neue defensive Socken, wenn es für die Playoffs reichen soll. Sonst muss sich der Trainer früher auf die Socken machen, als alle denken.