So geht Krise: Lugano hat seit dem Sieg im Derby am 22. November acht von zehn Spielen verloren. Die schmähliche 3:4-Pleite in Langnau ist die 10. Niederlage im 11. Auswärtsspiel. Unbeirrt hält Sportdirektor Hnat Domenichelli an seinem Trainer Luca Gianinazzi fest. Aber er hat schon neun Ausländerlizenzen eingelöst. Mit William Shakespare können wir sagen: «Somethig is rotten in the State of Lugano.»
Nicht diese Bilanz ist je nach Betrachtungsweise erheiternd oder ernüchternd, ja erschütternd. Es geht um eine Episode, die vielleicht verrückteste, seit Lugano 1982 in die höchste Liga zurückgekehrt ist.
Lugano trägt zu Recht die Ehrenbezeichnung «grande». Die Tessiner haben unter der Führung von Präsident Geo Mantegazza einst unser Hockey revolutioniert. In den 1980er Jahren gerade bei der Trainings-Qualität und -Intensität – speziell auch beim Sommertraining – neue Massstäbe gesetzt und eine Entwicklung ausgelöst, ohne die unser Hockey heute nicht wäre, was es ist. Viel Ruhm und Ehre sind der wohlverdiente Lohn für diese aussergewöhnliche Hockeykultur: Meister 1986, 1987, 1988, 1990, 1999, 2003 und 2006. Finalist 1989, 1991, 2000, 2001, 2004, 2016 und 2018.
Torhüter haben bei allen Klubs eine herausragende Bedeutung und erst recht in Lugano: Alfio Molina gehörte in den 1970er Jahren zu den besten letzten Männern ausserhalb der NHL, Cristobal Huet brachte es später drüben in Amerika zum Stanley Cup-Sieger und Millionär. Ronnie Rüeger ist ein Titan unserer Goalie-Geschichte, David Aebischer der erste Schweizer, der den Stanley Cup gewonnen hat, und Lars Weibel als Verbandssportdirektor heute einer der mächtigsten Männer in unserem Hockey. Und Evlis Merzlikins, der letzte Finalheld, hat es inzwischen auch zum Millionär in der NHL gebracht. Zum «Grande Lugano» gehören «grandi ultimi uomini, grandi portieri». Und nun also Dominic «Dodo» Nyffeler.
Es ist erst einmal eine schöne Geschichte über wahre Hockey-Romantik. Dominic Nyffeler verlässt am 15. März 2024 nach dem Ausscheiden im Halbfinal der Swiss League die Bühne des nationalen Hockeys durch die Hintertüre. Er hat mit Olten gegen die GCK Lions 4:5 verloren und ist an der Niederlage mit einer Fangquote von 75,00 Prozent wahrlich mitschuldig. Wie es seiner freundlichen Art entspricht, weist er Kritik an seiner Leistung keineswegs zurück. Er weiss: Seine Karriere ist eine unvollendete, mit einem Junioren-Länderspiel als internationalem Höhepunkt.
Aber eben auch eine interessante, erlebnisreiche, die ihn von Kloten aus nach Winterthur, Rapperswil-Jona, Wetzikon, Basel, für eine Saison nach Kanada (Bradford), Olten und zwischendurch auch in den Kanton Thurgau, in die Ajoie und ins Emmental geführt hat. Sie ist nun abgeschlossen. Er plaudert nach diesem, seinem letzten Spiel, mit dem Chronisten noch ein wenig über Gott und die Welt und darüber, dass eben alles einmal zu Ende geht. Die Ausrüstung muss er in Olten abgeben.
Und nun ist Dominic Nyffeler zurück. Und zwar auf der ganz grossen Bühne. Er ist sozusagen die letzte Hoffnung des «Grande Lugano». Niklas Schlegel fragil (er wird fürs Derby am Montag gegen Ambri geschont), Joren van Pottelberghe verletzt und der aus der KHL herbeigeholte Adam Huska ein Lottergoalie mit einer Fangquote von 85 Prozent. Da nützen die Milliarden der klugen Präsidentin Vicky Mantegazza nichts, da helfen weltweite Beziehungen nicht weiter – die letzte Lösung ist offensichtlich Dominic Nyffeler. Er ist bei der schmählichen 3:4-Niederlage noch einer der Besten und wehrt tapfer etwas mehr als 82 Prozent der Schüsse ab.
Er ist wahrscheinlich der einzige selbstkritische Goalie der Welt und sagt: «Es ist ganz gut gelaufen. Aber den vierten Treffer hätte ich verhindern müssen.» Wieder gibt er freundlich Auskunft, wie es eben seine Art ist. Wie zuletzt in Olten bei seinem vermeintlich letzten Spiel. Zu seiner Ehrenrettung sei angefügt: Beim Siegestreffer setzen sich in Luganos Verteidigungsdrittel drei Langnauer gegen fünf Tessiner Feldspieler durch. Defensives Schablonenhockey, das dem Goalie das Leben leichter macht, ist nicht Luganos Taktik.
Lugano hat Dominic Nyffeler im Oktober aus dem Ruhestand aufgescheucht. Das ist durchaus reizvoll. Der Klub, der einst das Sommertraining revolutionierte, vertraut auf der wichtigsten Position nun einem Mann, der ganz auf ein Sommertraining verzichtet hat. Der Bruder von Rappis Melvin Nyffeler bestätigt: «Ich habe mich einfach fit gehalten, aber nicht trainiert.» Er sei mit Hauskauf und mit drei Kindern neben der Arbeit als Immobilien-Treuhänder vollauf beschäftigt gewesen.
Dominic Nyffeler ist also das stärkste Argument gegen Sommertraining im Hockey. Die letzten Torhüter, die in der höchsten Liga bei einem wichtigen Klub ein ähnliches Comeback gegeben haben, waren 1980 HCD-Legende Albert «Albi» Maier beim SC Langnau und der deutsche Nationaltorhüter Simund «Sigi» Suttner 1984 beim EHC Arosa.
Im Oktober ruft Luganos Sportdirektor Hnat Domenichelli Dominic Nyffeler an. «Ich war überrascht und habe die Situation erst einmal mit meiner Frau besprochen. Ich habe das Hockey, das Leben in der Kabine schon ein wenig vermisst und rasch war für mich klar: Diese Chance muss ich einfach wahrnehmen. Ich bin während meiner Karriere von Verletzungen verschont geblieben und wenn ich am Morgen aufstehe, tut mir nichts weh.»
Also reist er nach Lugano, bewährt sich im Probetraining, bekommt einen Vertrag bis Ende Januar und besteht die Nagelprobe: Er hext Bellinzona am 14. Dezember in Winterthur zu einem sensationellen Punktgewinn und hält mehr als 92 Prozent der Schüsse.
Lugano zählt zu den wirtschaftlich stärksten Hockey-Unternehmen im Land. In Lugano haben schon viele Hockeystars ihre Vermögensbildung erfolgreich abgeschlossen. Beim Eishockey unter Palmen fällt keinem eine Kokosnuss auf den Kopf. Eher schon ein Portemonnaie. Wer im Gotthelfland aufgewachsen ist, dem ist Geld und Geist vertraut und so erkundigt sich der Chronist halt bei Dominic Nyffeler, was er denn in Lugano bei seinem wundersamen Comeback so verdiene.
Der freundliche junge Mann ist ein wenig verlegen und hätte gern das Thema gewechselt. Aber der Chronist lässt nicht locker und nimmt an, dass Dominic Nyffeler, der Retter in Luganos Goalienot, einen schönen Batzen verdient. Für die Zeit vom Oktober bis Ende Januar, wenn der Vertrag ausläuft (ob er verlängert wird, ist noch offen), müssten es, im Wissen um Stil, Anstand, Grosszügigkeit und Kultur in Lugano, schon um die 50'000 sein. Mindestens. Oder vielleicht sogar noch mehr?
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Den Betrag nennt Dominic Nyffeler nicht. Aber seine Antwort lässt eine recht präzise Schätzung zu: «Ich verdiene in Lugano weniger als zuvor im Büro.» Er habe seine Stelle gekündigt, um diese Chance zu packen. «Ich muss dann halt wieder einen neuen Arbeitsplatz suchen.»
Wir wollen nicht polemisieren. Aber wir staunen. Luganos kluge Präsidentin Vicky Mantegazza gebietet über ein Immobilien-Imperium, dessen Wert von Kennern auf über eine Milliarde geschätzt wird. Und nun wird in ihrem Klub ein Immobilien-Kaufmann auf der so wichtigen Goalie-Position, der alles stehen und liegen gelassen hat, um Lugano zu helfen, mit weniger Geld als ein Büroangestellter im Immobilien-Business abgespiesen. Excusez l’expression – aber das ist schon ein wenig schäbig.
Doch Dominic Nyffeler ist halt der letzte wahre Romantiker unseres Hockeys. Er sagt, Geld spiele ihm in diesem Fall keine Rolle. «Ich bin einfach Lugano sehr dankbar, dass ich diese Chance bekommen habe und nun auch ein Spiel bestreiten durfte.»
Dominic Nyffeler dürfen wir jetzt in einem Atemzug mit Alfio Molina, David Aebischer, Ronnie Rüeger, Lars Weibel, Cristobal Huet oder Elvis Merzlikins nennen. Lugano, einst Trendsetter gerade im Sommertraining, überlässt die zentrale Goalieposition einem Romantiker, der gar kein Sommertraining gemacht hat und bezahlt ihm nicht einmal das Salär eines Büroangestellten. Das ist schon fast Verrat an einer der höchstentwickelten Leistungskulturen im Land und halt der Geiz des modernen Kapitalismus. Die Hockeywelt ist in Lugano schon ein wenig aus den Fugen geraten.