Vor der WM 2010 (5.) besiegten wir in Kreuzlingen Norwegen 4:0.
Vor der WM 2011 (9.) gelang uns in Rapperswil gar ein 3:0 gegen Russland.
Vor der WM 2012 (11.) unterlagen wir in Kloten den Kanadiern 2:4.
Vor der Silber-WM 2013 siegten wir in Rapperswil gegen Deutschland 3:2.
Und jetzt also ein 0:4 gegen ein kanadisches Nationalteam ohne einen einzigen Spieler aus dem olympischen Siegerteam. Auf den ersten Blick heisst das: Wir haben in Minsk keine Chance auf eine Medaille. Doch ein zweiter Blick zeigt uns: Auch in Minsk ist alles möglich.
Triumph und Absturz liegen bei einer WM so nahe beieinander, dass mit dem gleichen Team eine Medaille oder das Verpassen der Playoffs möglich ist. Ein WM-Final ist keine Garantie für weitere Medaillen. Ein Verpassen der Viertelfinals keine Verbannung aus dem Medaillenrängen in alle Ewigkeit. 2002 kamen die Slowaken beim olympischen Turnier in Salt Lake City auf den 13. Platz. Knapp drei Monate später wurden sie in Göteborg Weltmeister.
Die Schweizer Mannschaft ist seit der Ankunft von Reto Berra gut genug für eine Medaille. So gut Leonardo Genoni und Robert Mayer auch sein mögen: Nur Reto Berra hat die Ausstrahlung, das Charisma eines grossen Torhüters. Nur mit einem grossen Torhüter ist ein Exploit bei einer WM möglich. So gesehen ist er unser wichtigster Einzelspieler. Wenn Reto Berra in Minsk nicht in Form ist, können wir alles andere vergessen.
Im letzten Vorbereitungsspiel gegen die Kanadier fehlten der Mannschaft gleich alle Qualitäten des letztjährigen Silberteams. Reto Berra fehlte das Charisma von Stockholm, das Spiel in der eigenen Zone miserabel und vorne fehlte der direkte Zug aufs Tor. Weder das Boxplay noch das Powerplay funktionierten richtig und nur in kurzen lichten Momenten lief das Tempo- und Kombinationsspiel.
Eishockey ist ein emotionales Spiel. Alles fliesst: Im Laufe des Turniers entwickelt jede Mannschaft eine Dynamik. Eine positive oder eine negative. Erst recht bei den verhältnismässig jungen Schweizern. Ob es «Klick» macht wie vor einem Jahr in Stockholm oder alles schief geht, kann in einem einzigen Moment entscheiden. Durch eine Zufälligkeit, einen «abspritzenden» Puck, einen Fehlpass. Wir sind mental und physisch zu wenig robust, um an einer WM auch dann um Medaillen zu spielen, wenn der Puck nicht unseren Weg geht. Wir können das Glück in Minsk nicht «erzwingen». Aber wir sind gut genug, die Türe zu öffnen und die Chance zu packen, wenn das Glück wieder anklopft.
Neben einem Reto Berra in Bestform braucht es ein paar Leitwölfe, die das Team tragen: Mathias Seger, Roman Josi und Damien Brunner. Die WM-Frischlinge Sven Bärtschi und Kevin Fiala haben das Talent, um das ganze Team zu inspirieren. Die Mannschaft ist insgesamt unerfahrener als vor einem Jahr und defensiv nicht ganz so stabil und tempofest. Noch elf Silberhelden von Stockholm sind dabei. Die WM-Mannschaft 2014 ist sozusagen ein halbes Silberteam ohne defensives Fundament. Wasserverdrängung. Kraft und Wucht sind nahezu gleich. In den letzten drei WM-Testpartien gelang nur ein einziges Tor. Doch das täuscht darüber hinweg, dass wir mit den drei NHL-Stürmern Simon Moser, Sven Bärtschi und Damien Brunner offensiv nominell eher besser besetzt sind als vor einem Jahr. Aber es fehlt uns ein charismatischer, dominierender Center wie Martin Plüss.
Dass der Vertrag mit Sean Simpson ausläuft, hat auf das Leistungsvermögen der Mannschaft nullkommanull Einfluss und nach dem Turnier wird jeder Hinweis auf die Vertragssituation eine billige Ausrede sein. Nach dem Motto: Nach dem Krieg ist jeder Soldat ein General. Sean Simpson ist ein Siegertyp durch und durch. Sein Stolz lässt gar nichts anderes zu als mit Leib und Seele, Hartnäckigkeit und Akribie, Feuer und Flamme alles für den Erfolg zu tun.
Wir werden schon sehr früh, nämlich genau in einer Woche, am Mittwoch, 14. Mai, wissen, ob die WM 2014 ein Erfolg wird. Dann haben wir gegen Russland, die USA, Weissrussland und Deutschland gespielt. Pleiten gegen die Weissrussen und Deutschen können wir uns nicht leisten. Sie würden uns die Viertelfinals kosten. Aber eines unterscheidet das WM-Team von 2014 von allen anderen seit der Rückkehr in die A-WM im Jahre 1998: Das Wissen, dass wir eine Medaille holen können. Dieses «Yes, we can» kann in Minsk die Differenz machen.