Chur? Etwas irritiert fragt ein ausländischer Chronist, was es denn mit Chur auf sich habe? Er hat mitgehört, wie sich Nino Niederreiter (30) mit einem Berichterstatter aus der Schweiz über Churs Scheitern in den Playoffs der höchsten Amateurliga gegen Hockey Huttwil unterhalten hat.
Die Episode sagt sehr viel über Nino Niederreiter. Über ihn und seine Karriere. Er hat noch keine Sekunde vergessen, woher er kommt. Er hat es in der wichtigsten Liga der Welt zu Millionen gebracht und ist doch geerdet, unkompliziert, bescheiden und freundlich geblieben. Nicht viele NHL-Spieler sind einen so weiten Weg zu Ruhm und Reichtum gegangen. Ein besserer Captain für unser WM-Team ist nicht denkbar.
Chur ist Nino Niederreiters Heimat. Für den EHC Chur setzt er sich ein. Sogar auf der renommierten internationalen Hockey-Datenbank «Elite Prospects» ist er als «Team Consultant» für den Klub aufgeführt.
Von Chur aus, wo ihn einst die Trainer aus dem Juniorenteam nahmen, weil er zu gut war, hat er die Welt erobert. Aber nicht im Sturm.
Viele wären an den Umständen zerbrochen und hätten die Widerstände nicht überwunden. Mit 17 wechselt er im Herbst 2009 ins nordamerikanische Junioren-Hockey. Als Erstrundendraft (Nr. 5) von 2010 ist das Tor zur NHL weit offen. Aber die New York Islanders wissen Nino Niederreiters Potenzial nicht zu schätzen. Er kommt nie über die Rolle eines Hinterbänklers hinaus und verbringt die ganze zweite Saison (2012/13) im Farmteam.
Sein Agent André Rufener bringt es fertig, die Islanders zu einem Tauschgeschäft zu überreden und Nino Niederreiter neue Perspektiven zu eröffnen. Bei Minnesota nimmt seine Karriere Fahrt auf. Er etabliert sich in der wichtigsten Liga der Welt und hat bisher in der NHL rund 40 Millionen brutto verdient.
Klaglos eine ganze Saison im Farmteam darben, Tag für Tag im Training und im Spiel ein Maximum leisten. Im Wissen, dass er bei weitem gut genug wäre für die NHL – diese Charakterstärke, diese Beharrlichkeit zeichnet Nino Niederreiter aus. Darum hat er es geschafft. Darum ist er heute Captain des WM-Teams.
Im Sommer 2022 kann er nach Auslaufen seines Vertrages mit Carolina zum ersten Mal den Klub uneingeschränkt frei wählen. Er entscheidet sich für Nashville. Der Traum, mit seinem Freund Roman Josi im gleichen Team zu spielen, geht in Erfüllung. Und endet bereits im Februar 2023: Nino Niederreiter wird samt Vertrag nach Winnipeg transferiert. Mitspracherecht hat er nicht. Im Teambus erfährt er vom «Handelsgeschäft» der General Manager in Nashville und Winnipeg. Fünf Stunden Zeit bleiben, um die Wohnung zu räumen.
🚨 Nino Niederreiter extends the lead for @SwissIceHockey.🇨🇭#SUISVK #IIHFWorlds @nhljets @thelnino22 pic.twitter.com/5c5e04h1dH
— IIHF (@IIHFHockey) May 18, 2023
Den Entscheid, Nashville ausgesucht zu haben, bereut er trotzdem nicht. «Es war immer mein Traum, mit Roman Josi in einem Team zu spielen. Zudem durfte ich im vergangenen Herbst mit Nashville in Bern ein Testspiel gegen den SCB bestreiten. Meine Grosseltern und Patenkinder sassen auf der Tribüne. All das wäre mir verwehrt geblieben, hätte ich nicht in Nashville unterschrieben.»
Der Transfer von Nashville nach Winnipeg schmerzt. Er muss das Team seines Freundes verlassen und ausgerechnet in die kanadische Weizenprärie ziehen. Hier sind die Winter garstig. Fünf Monate lang Frostwetter mit Temperaturen unter null. Die Stadt mit 750'000 Einwohnenden ist so ziemlich der unattraktivste NHL-Standort.
Nino Niederreiter beklagt sich nicht. Mit keinem Wort. Seine Gefühle bei diesem Transfer sind seine Sache. Mit dem Geschäft haben sie nichts zu tun. Er wird vom Berichterstatter der offiziellen NHL-Webseite in Riga zur Sache befragt und bleibt durch und durch diplomatisch. Auf entsprechende Fragen antwortet er, die Stadt könne er noch nicht beurteilen. «Ich war ja die meiste Zeit mit der Mannschaft unterwegs und habe nicht einmal zwei Wochen in der Stadt verbracht.» Er lobt seinen neuen Arbeitgeber, die Fans und bringt es auf den Punkt: «Ich darf weiterhin in der NHL spielen.»
Nur wenn es um die Nationalmannschaft geht, kann Nino Niederreiter offen über seine Gefühle reden. Da braucht er keine Kreide zu fressen. Das Dress mit dem Schweizerkreuz bei der WM zu tragen, das gehört für ihn einfach dazu. Es ist der Bezug zur Heimat. Zur Eishockeykultur, aus der er stammt. Natürlich sei der Stanley Cup das grösste Ziel. «Das Ausscheiden tut weh. Aber wenn die Enttäuschung überwunden ist, dann ist die WM die nächste Herausforderung.»
Für den 897-fachen NHL-Stürmer (221 Tore/222 Assists) ist Riga die siebte WM-Teilnahme. Erstmals dabei war er 2010 mit 17 in Mannheim. Er hat bisher 43 WM-Partien (17 Tore/12 Assists) bestritten.
Nun ist Nino Niederreiter bei einer WM so gut wie noch nie. In den vier ersten Partien hat er vier Tore erzielt. Zusammen mit Nikolaj Ehlers (in Biel ausgebildet, heute NHL-Millionär) und Dominik Kubalik (in Ambri einst Liga-Topskorer) ist er der beste Torschütze des laufenden Turniers. Und die vier Treffer hat er alle auf verschiedene Art und Weise erzielt: Eine Art «Ablenker» gegen Slowenien, ein Treffer ins leere Tor gegen Norwegen, ein wuchtiger Schuss im Powerplay gegen Kasachstan und die eiskalte Vollendung eines schnellen Gegenangriffs im Duett mit Andres Ambühl gegen die Slowakei. Tore in allen Varianten aus allen Lagen und Situationen.
5 Tore in 10 Partien bei der Silber WM 2013, 4 in 10 Spielen bei der Silber WM fünf Jahre später 2018. Nun sind wieder fünf Jahre vergangen und Nino Niederreiter ist bereits nach 4 Spielen bei 4 Toren angelangt.
Der Churer ist der einzige Spieler im WM-Team, der bei den Silber-Turnieren von 2013 und 2018 dabei war: «Captain Silber» in Riga in seiner besten Rolle. Mit der Aussicht, «Captain Gold» zu werden.