Nie sind die Zeiten für tapfere Hinterbänkler, übersehene Talente, Nonkonformisten oder «Graubärte» besser als während der Playoffs. Sie sind sehr oft dazu in der Lage, sogar verletzungsbedingte Ausfälle der Stars wettzumachen. Vor allem dann, wenn das Team schlau gecoacht wird.
Eine «Milchbüchlein-Rechnung» erklärt, warum das so ist und der Ausfall von einem oder mehreren Schlüsselspielern während der Playoffs noch kein Grund ist, in eine Depression zu verfallen.
Die «Milchbüchlein-Rechnung» ist ein in unserem Land verbreiteter Begriff für eine eigentlich naive Argumentation oder eine arg vereinfachte, der Komplexität der Sache nicht gerecht werdende Berechnung. In unserem Fall enthält sie viel Weisheit und Wahrheit und geht so:
Ist diese «Milchbüchlein-Rechnung» tatsächlich so einfach? Am Beispiel von Gottéron können wir aufzeigen, dass der Ausfall wichtiger Spieler tatsächlich mindestens kompensiert werden kann. Bereits in der zweiten Viertelfinalpartie gegen den SC Bern verliert Gottéron mit Jacob de la Rose seinen drittbesten Skorer durch eine Verletzung.
Im zweiten Halbfinalspiel gegen Lausanne erwischt es mit Lucas Wallmark auch noch den Topskorer. Aber Gottéron hat den SCB in sieben Spielen aus den Playoffs gekippt und ist im Halbfinal bis ins siebte Spiel gekommen.
Mit einem Sieg heute Abend in Lausanne kann Gottéron zum fünften Mal nach 1992, 1993, 1994 und 2013 in den Final einziehen – und erstmals Meister werden. Weil mutige Hinterbänkler, «Graubärte», übersehene Talente und Nonkonformisten über sich hinausgewachsen sind und Spieler eine neue Rolle übernommen haben. Nach dem Motto: Wir haben den Topskorer verloren – na und?
Im Falle einer Niederlage in diesem siebten Spiel hat Gottéron immerhin bei weitem die Ehre gerettet. Und der neue Trainer Roger Rönnberg erbt so oder so ein Problem, das ihn das Amt kosten kann: Ihm eilt der Ruf voraus, in Europa am härtesten trainieren zu lassen. In Schweden – und er hat noch nie in einem anderen Land gearbeitet – mag das wunderbar funktionieren. Aber in Freiburg im Üechtland bzw. Fribourg, einer Stadt mit einer lateinischen Kultur, die einst als „kleine Schwester von Paris“ berühmt war? Mit Lars Leuenberger als Assistenten?
Der aktuelle Cheftrainer wird zwar nächste Saison ehrlich und mit jeder Faser seines Wesens loyal zu seinem neuen Boss sein. Aber wenn es nicht richtig läuft, dann ist allein die Anwesenheit eines Assistenten, der es als Chef besser gemacht hat, für Roger Rönnberg fatal.
Das übersehene Talent: Jan Dorthe (19) ist ein Gottéron-Junior, der nach einem Lehrjahr in Schweden im letzten Frühjahr wieder heimgekehrt ist. Dass er in einer Playoff-Verlängerung die Entscheidung herbeiführen könnte, schien so unwahrscheinlich wie ein Comeback von Dino Stecher, dem Finalgoalie von 1992, 1993 und 1994.
Und doch: Jan Dorthe hat in der 82. Minute das 4. Halbfinalspiel gegen Lausanne mit dem Verlängerungstreffer zum 4:3 entschieden. Während der Qualifikation hatte er in 36 Partien 2 Tore beigesteuert. Er ist nur zum Zuge gekommen, weil offensive Titanen wie Lucas Wallmark und Jacob de la Rose fehlten.
Eine neue Rolle für einen mutigen Hinterbänkler. Samuel Walser ist einer der besten Defensivstürmer der Liga und hoch dekoriert: 2015 Meister mit Davos. Diese Saison hat er in der Qualifikation in 52 Partien als offensiver Hinterbänkler einen einzigen Treffer erzielt. Nun sind es in den Playoffs in 13 Spielen bereits 4. Weil er nach dem Ausfall der beiden ausländischen Stürmer mehr offensive Verantwortung übernimmt. Durchaus möglich, dass der von Patrick Fischer als Center nach 2016 zum zweiten Mal ins WM-Team berufen wird.
Der Nonkonformist. Während der Qualifikation ist Verteidiger Yannick Rathgeb von Trainer Patrick Emond zeitweise auf die Tribüne strafversetzt worden. Der neue Trainer Lars Leuenberger hat diese unfassbare Torheit korrigiert und in den Playoffs rockt der Nonkonformist die blaue Linie: In 11 Playoff-Partien hat Yannick Rathgeb schon mehr Tore erzielt (4) als in 44 Qualifikationsspielen (3). Ohne die defensiven Pflichten zu vernachlässigen: Die Plus-Minusbilanz ist in den Playoffs (+4) nämlich besser als in der Qualifikation (+1).
Die «Graubärte». Captain Julien Sprunger ist im Januar 39 geworden. In den Playoffs ist er dominanter (13 Partien/7 Punkte) als in der Qualifikation (52/23) und mahnt ein wenig an Jaromir Jagr oder Gil Montandon. Und Torhüter Reto Berra (38) ist zwar nicht statistisch, aber gefühlt so gut wie seit seinem WM-Halbfinal von 2013 (3:0 gegen die USA) nie mehr.
Gottéron ist ein perfektes Beispiel dafür, wie es möglich ist, Rückschläge zu verkraften, wenn auch Spieler aufstehen, die sonst nicht im Rampenlicht stehen. Und wie wertvoll Erfahrung in den Playoffs sein kann. Die Schlüsselfigur bei solchen «Milchbüchlein-Rechnungen» ist in jedem Fall der Trainer.
Lars Leuenberger (Gottéron-Napoléon) hat nicht nur eine Antenne für Formstand und Energiehaushalt seiner Männer. Er spürt auch im Verlauf eines Spiels, wer «heiss» ist, auf wen er setzen kann – und lässt dann eben in der Verlängerung Jan Dorthe laufen und der Junior trifft zum Siegestor. Dafür ist er bereits belohnt worden: Im ersten und zweiten Spiel war er nicht auf dem Matchblatt.
Im dritten Spiel kam er aufs Matchblatt, aber nie zum Einsatz. Das vierte Spiel hat er bei erst 07.00 Minuten Eiszeit in der Verlängerung entschieden. Im fünften Spiel hat er 10:09 und im sechsten 12:59 Eiszeit bekommen. Playoffs können gute Zeiten für zuvor übersehene Junioren sein.
Aber "Stadt mit einer lateinischen Kultur"... der Eismeister ist nicht müde die Zweisprachigkeit Freiburgs ausser Acht zu lassen.
Gotteron war schon immer der Klub aller Freiburger. Notabene stand eines der ersten Eisfeldern im Galterntal auf deutschfreiburger Seite der Sprachgrenze. Die Spieler sind schon seit je her aus beiden Sprachregionen. Aber die Sorge teile ich, wieviel schwedisch Gotteron vertragen wird.