Eigentlich hätte die UNESCO die Valascia, dieses verwitterte, zugige Stadion längst zum Weltkulturerbe erklären müssen. Die Hockey-Trutzburg in einem kargen, wilden Bergtal auf gut 1000 Metern über dem Meeresspiegel, am Fusse steiler Bergflanken, von denen Lawinen herunterdonnern können, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das macht einen Teil ihres Charmes aus.
Die Valascia ist ein Sporttempel der heroischen Siege und Niederlagen. Hier musste Ambri am 5. April 1999 nach einem 1:3 im 5. Finalspiel zusehen, wie Erzrivale Lugano den Titel feierte. Aber hier holte Ambri im gleichen Jahr durch ein 2:0 über Magnitogorsk den Super Cup und wurde die Nummer 1 in Europa. Hier haben sich Andy Bathgate, Dale McCourt, Pauli Jaks, Oleg Petrow, Paul DiPietro und Generationen der Celios in die ewige Erinnerung der Fans gespielt.
Hier ist «La Montanara» zur berühmtesten Siegeshymne des Eishockeys geworden. Niemand vermag zu sagen, ob sie auch im neuen Tempel so wunderbar tönen wird. Wahrscheinlich nicht. Ohne die Valascia hätte Ambri nicht europaweit einen mythischen Status.
Nun wird Ambri im Sommer 2021 weiterziehen. Quer durchs Dorf, hinüber ins neue, von Stararchitekt Mario Botta konzipierte Stadion auf dem Gelände des ehemaligen Militärflugplatzes. Der neue Tempel, 51 Millionen Franken teuer, ist Wirklichkeit geworden, während es in Genf nicht möglich ist, eine neue Arena zu bauen.
Auch sonst hat das Management in den letzten Jahren sehr viel richtig gemacht. Der Entscheid 2017, die wichtigsten operativen Jobs an Luca Cereda und Paolo Duca, zwei Söhne Ambris zu vergeben, hat dem Klub die Identität zurückgegeben und ihn revitalisiert. Zwischen 2011 und 2016 bangte Ambri um den Liga-Erhalt (vier Mal in die Liga-Qualifikation) und Trainerentlassungen (Benoit Laporte, Kevin Constantine, Serge Pelletier, Hans Kossmann) kosteten viel Geld, Energie und Sympathie.
Seit Luca Cereda Ambri coacht und Paolo Duca die Sportabteilung managt, ist Ruhe eingekehrt. Filippo Lombardi hat 2009 das Präsidentenamt in schwierigen Zeiten übernommen und der Architekt des neuen Ambri wird dereinst als bester Vorsitzender in die Geschichte eingehen. Es ist eine bittere Ironie, dass ihn das Stimmvolk im Tessin nicht mehr in den Ständerat gewählt hat. Undank ist der Welten Lohn.
Wird Ambri ohne die Valascia die Identität verlieren? Das ist eine Sorge für später. Nun geht es erst einmal darum, sich würdig aus der Valascia zu verabschieden. Warum nicht mit einem Hockey-Wunder, mit der ersten gewonnenen Playoff-Serie seit 21 Jahren? Oder wirkt die Nostalgie der letzten Saison eher lähmend?
Wie stehen die Chancen? Trainer Luca Cereda (39) ist die zentrale Figur. Nicht einmal der grosse Scotty Bowman oder Ralph Krueger hätten Ambri in den letzten drei Jahren besser coachen können. Lob gebührt dem jüngsten Trainer auch für die von ihm vorgelebte hohe Leistungskultur. Er ist die pflegeleichte Antwort auf Arno del Curto. Und die Frage ist: Was könnte er erreichen, wenn er einmal so viel Talent zur Verfügung hätte, wie es Del Curto einst in Davos gehabt hat?
So viel Talent wie der meisterliche HCD des 21. Jahrhunderts wird Cereda in Ambri nie haben. Auch nicht im neuen Stadion. Es ist so, wie es so oft war und wie es künftig wohl immer sein wird: Siege gegen Ambri müssen die Gegner erdulden. Siege muss Ambri erarbeiten. Was dem Team an Talent fehlt, macht es mit Leidenschaft, Disziplin und aufopfernder Spielweise wett.
Inzwischen lebt Ambri diese Leistungsbereitschaft unter Cereda bereits seit drei Jahren. Er ist der perfekte Trainer für Ambri und doch treibt uns die Frage um: Was könnte er bei einem Grossklub wie Bern oder Lugano bewirken? Als einziger Trainer der Liga hat er keinen Zeitvertrag. Sondern eine auf drei Monate kündbare Anstellung. Die Frage, ob Arno del Curto nach Bern, Lugano oder Zürich wechseln könnte, hat uns 20 Jahre lang Stoff für billige und manchmal etwas weniger billige Polemik geliefert. Und als er den HCD verliess, um doch noch zu den ZSC Lions zu gehen, ging seine Karriere zu Ende.
Luca Cereda wie Arno Del Curto? Dann müsste er bis 2039 in Ambri bleiben. Und dürfte dann nicht den Fehler machen, nach Zürich zu wechseln.
Wir wissen also: Der Trainer ist gut. Aber wie gut ist die Mannschaft? Die Abhängigkeit von einzelnen Spielern ist gross. Nur auf der zentralen Torhüterposition nicht. Bei den Goalies ist Ambri mit Benjamin Conz und Damiano Ciaccio gut abgesichert. Aber wehe, wenn Michael Fora ausfällt. Er ist Ambris einziger Schweizer Nationalspieler und kein anderer Schweizer Verteidiger hätte bei der Konkurrenz einen Platz in den ersten zwei Formationen. Ambri ist auf exzellente Torhüterleistungen und in der Rückwärtsbewegung disziplinierte Stürmer angewiesen.
Die Playoffs sind 2019 vor allem dank den Toren von Dominik Kubalik erreicht worden. Er hatte 25 Treffer erzielt und sein Nachfolger Robert Sabolic musste sich letzte Saison mit 5 Toren begnügen. Aber nun kommt Julius Nättinen, der Torschützenkönig der höchsten finnischen Liga, und Daniele Grassi ist nach vier Jahren in der Deutschschweiz (Kloten, SCB) heimgekehrt. Von ihm dürfen mindestens 10 Tore erwartet werden. Die offensive Durchschlagskraft ist wieder gross genug, um mehr als 130 Tore zu erzielen. Eigentlich genug, um die Playoffs zu erreichen.
Aber zur letzten Saison in der Valascia passen besser dramatische Niederlagen, nur ab und zu unterbrochen durch noch dramatischere Siege. Eine letztes, grandioses Hockey-Drama zum Abschied von dieser Bühne. Irgendetwas zwischen Goethes «Faust» und Tennessee Williams «Endstation Sehnsucht». On Ice natürlich. Zu viel Hollywood und Nostalgie wird zwar vom Spiel ablenken. Aber passieren kann ja nichts. Im Frühjahr 2021 gibt es keinen Absteiger.
Platz 10.