Die Piste ist zu hoch oben. Zu nahe am Berg der Berge. Auf so exponiertem hochalpinem Gelände beim Matterhorn haben zuvor noch nie Menschen versucht, ein Skirennen durchzuführen. Wir kennen die Strafe der Dämonen der Berge: Zwei Jahre keine Rennen. Darüber ist in den letzten Wochen ausgiebig geschrieben und gesendet worden.
Hingegen geht fast vergessen, dass es unten im Tal noch verrücktere Pläne gibt. Gaukler und Luftschloss-Architekten planen eine Hockey-Revolution. Ein Kanadier und ein schlauer Walliser. Der Kanadier Chris McSorley in Sierre und Sébastien Pico etwas weiter oben im Tal in Visp.
Eishockey hat im Tal eine lange, ruhmreiche Tradition. Der EHC Visp hat anno 1962 sogar den ZSC entthront und die Meisterschaft gewonnen. Der HC Sierre (oder Siders) hat es 1973 immerhin zur Vize-Meisterschaft (2.) hinter La Chaux-de-Fonds gebracht und weltweit Hockey-Schlagzeilen geschrieben: Im Sommer 1979 spannt Sierre den Montréal Canadiens Superstar Jacques Lemaire, soeben Stanley Cup-Sieger und Topskorer, aus. Weil ihr Angebot von 60'000 Dollar netto pro Saison plus Auto plus Kindermädchen plus Wohnung besser ist als das des berühmtesten Hockeyclubs der Welt.
Auch mit Jacques Lemaire als Spielertrainer ist Sierre in zwei Anläufen nicht in die höchste Liga zurückgekehrt. Seit 1991 ist das Wallis nicht mehr in der obersten Spielklasse vertreten.
Höhepunkte des Hockeyjahres sind inzwischen die Derbys in der zweithöchsten Liga und die TV-Übertragungen der Heldentaten von Nico Hischier im fernen Amerika. Der erste und einzige Nummer-1-Draft mit Schweizer Pass und Captain des NHL-Teams von New Jersey stammt aus der Visper Hockeykultur. Sein Jahreslohn (diese Saison 7,75 Millionen Dollar) übersteigt inzwischen das Jahresbudget des EHC Visp.
Irgendwie vereinfacht und veranschaulicht Hockey im Wallis die Elemente, die unser tägliches Leben prägen: Gerechtigkeit, Vernunft, Instinkt, Mitgefühl, List, Dankbarkeit und Moral. Aber Hockey rockt nicht mehr. Weil es zu oft um seelenlose Luftschlösser geht. Ach, vergessen die Zeiten, als Trainer Bruno Aegerter in Visp von den Schiedsrichtern auf die Tribüne geschickt wurde und von dort aus die Unparteiischen im Zorn mit Farbstiften bewarf. Wenn Visp heute gegen Sierre antritt, dann ist es das emotionsloseste Derby der Hockeywelt. Als habe der EHC Visp seine sportliche DNA verloren.
Am Dienstagabend ist die Lonza-Arena nicht einmal zu zwei Dritteln gefüllt: offiziell 3'262 Fans bei 5000 Plätzen. Wobei der optische Eindruck den Verdacht erweckt, dass die Publikumszahl mindestens so geschönt wird wie die sportliche Realität.
Immerhin: Visp gewinnt 4:0 und die Stimmung ist geprägt von freundlicher Anteilnahme. Von Begeisterung allerdings keine Spur. Die Lonza Arena ist der funktionellste Hockeytempel im Land. Geräumig, mit breiten Gängen, wunderbar ausgebauter Gastronomie plus Logen, zu hundert Prozent bargeldlos und – wie es in unserem Land inzwischen halt der Brauch ist – fast ohne Parkplätze in Stadionnähe. Alles bei weitem tauglich für die höchste Liga. Und tatsächlich sind die gesalzenen Preise so hoch wie in Langnau, wo ein ordentliches erstklassiges Spektakel geboten wird. Und eine noch bessere Gastronomie.
Aber Sébastien Pico, seit 2005 im Amt, ist ein Luftschloss-Architekt. Seine Kritiker sagen sogar: ein freundlicher Gaukler. Der smarte Manager und Netzwerker, im Wesen und Wirken so etwas wie die Walliser Antwort auf Raëto Raffainer, verkauft höchst erfolgreich ein sportliches Luftschloss: Die Renaissance der Visper Hockeykultur. Er kann neben Oltens Patrick Reber von allen Managern in der zweithöchsten Liga am meisten Geld ausgeben: offiziell knapp sechs Millionen. Das Resultat: Selbst nach dem Derby-Sieg gegen Sierre ist Visp nach wie vor nicht auf einem Playoff-Platz und liegt neun (!) Verlustpunkte hinter dem Kantonsrivalen auf Rang 9.
SL-Playoffs ohne Visp wäre wie eine Fussball-WM ohne Deutschland mit einem Scheitern der Deutschen in einer Gruppe mit Andorra, San Marino, Liechtenstein und den Färöer-Inseln, aber Pep Guardiola als Bundestrainer.
Noch nie hat ein Hockey-Manager so geschickt Illusionen verkauft wie Sébastien Pico. Visp ist Zweitletzter der SL und doch kommt keine Unruhe auf. Natürlich: Immer und überall wird der Trainer in einer Krise verbal gestützt, gerühmt, gelobt. Die Rede ist von Geduld, guter Stimmung in der Garderobe und einer Mannschaft, die zu hundert Prozent hinter dem Trainer steht. Wahr ist es nie. Oder doch? In Visp ist es die Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit. Gospel.
Einerseits weil Sébastien Pico so meisterhaft versteht, seinen Sponsoren und sonstigen Geldausgebern das Luftschloss eines sportlich grossen Visp zu verkaufen. Und andererseits, weil der Trainer einfach eine Nummer zu gross ist, um entlassen zu werden. Wenn Visp Heinz Ehlers feuern würde, wäre das so, wie wenn Jürgen Klopp beim FC Aarau gehen müsste.
Das Erstaunliche, ja Verrückte dabei: Die sportliche Krise dürfte die aktuell grösste in unserem Hockey sein. Weit dramatischer als etwa beim EHC Biel. Und doch gibt es keinerlei Krisenstimmung. Es ist in Visp, als sei alles losgelöst von den Resultaten. Hockey einfach als Abendunterhaltung. Der Klub lässt TV-Bilder fürs Inhouse-Fernsehen und den Streaming-Service der Liga produzieren, die fast so gut sind wie jene der NL von MySports. Die Akustik in der Arena, der Videowürfel, der Sitzplatzkomfort: erstklassig. NHL im Westentaschenformat. Gute Laune beim Fondue in der «Chees Lounge» (und vorher ein wunderbares Walliser Plättli).
Ein kluger junger Sponsorenvertreter (die Sponsoren tragen pro Saison gut zwei Millionen in die Klubkasse) hat zwischen Walliser Plättli und Fondue eine interessante Vision: Warum eigentlich nicht Hockey ohne Fans? Das Spiel nur übertragen auf Smartphones? Und sonstige Bildschirme? Im Stadion bloss noch die Logen und VIP-Beizen als Treffpunkt? Das würde doch viele Kosten sparen, die Sicherheit wäre kein Problem. Tja, warum nicht? Wer weiss: Unter solchen Voraussetzungen würden vielleicht am Ende gar noch «Opus Dei» oder der Vatikan eine Loge mieten.
Heinz Ehlers ist ein grosser Trainer. Zwar nie NL-Schweizer Meister. Jedoch ein Hexenmeister, der aus einem Team ein Maximum herauszuholen versteht. Aber noch nicht in Visp. Mit einem Hang zu trockenem Humor. «Aha, Sie sind gekommen, weil Sie hofften, dass ich bei einer weiteren Niederlage gefeuert werde», begrüsst er nach dem 4:0 gegen Sierre einen aus der fernen «Ausserschweiz» angereisten Chronisten. Energischen Widerspruch lässt er nicht zu: «Ich kenne Sie…».
Natürlich ist das nicht so. Weil Heinz Ehlers selbst nach einem 0:7 in diesem Derby immer noch in Amt und Würde wäre. «Es ist verrückt», sagt er. «Wir haben so oft besser oder mindestens gleich gut wie unser Gegner gespielt und einfach die Tore nicht erzielt und verloren.» Die Erleichterung ist ihm anzumerken und er führt aus, die Zeit hier in Visp sei wohl die schwierigste seiner Trainerlaufbahn. Nur dank seiner Erfahrung sei er ruhig geblieben: «Früher habe ich Niederlagen persönlich genommen. Jetzt nicht mehr.»
Ein grosser Trainer in der Provinz. «Na ja, man mag sagen, was ich denn da in der zweithöchsten Liga mache. Aber wissen Sie was: Es gefällt mir hier so gut.» Es wirkt fast so, als sei der Däne und Vater von NHL-Star Nikolaj Ehlers hier am Ort seiner Bestimmung angelangt. Eigentlich spielt es ja keine Rolle, auf welchem Rang er die Playoffs schliesslich doch noch erreichen wird. «Das stimmt nicht ganz. Also Platz 8 und dann gegen Olten, das würde schwierig. Die Oltner sind wirklich stark.»
Alles in bester Ordnung also. Allenthalben gute Laune vor, während und nach dem Spiel. Obwohl die Mannschaft seit dem Gewinn der zweithöchsten Liga (2014) nie mehr über den Viertelfinal hinausgekommen ist (2020 verhinderte die Pandemie den Halbfinal) und nun gerade die sportlich schmählichste Saison des 21. Jahrhunderts erlebt.
Visp, eine wundersame Traumwelt des Hockeys. Sébastien Pico ist so etwas wie eine Kombination aus David Copperfield und Uri Geller des Hockeys. Nur dass er nicht wie Uri Geller Löffel mit magischen Kräften verbiegt. Sondern die sportliche Wirklichkeit. Er passt ins Hockey-Wunderland Wallis und es wäre ob den wundersamen Verhältnissen in Visp wahrlich Geldverschwendung, neben Sébastien Pico auch noch einen kompetenten Sportchef zu löhnen.
Knapp 30 Kilometer weiter südlich ist auch ein Luftschloss-Architekt am Werk. Chris McSorley. Okay, der Kanadier hat immerhin als Trainer, Sportchef, Manager und Mitbesitzer aus dem Zweitligateam Servette das bestfunktionierendste Sportunternehmen des Welschlandes gemacht und das Fundament zum ersten Meistertitel der Klubgeschichte gelegt. Aber der Versuch, in Genf ein neues Stadion zu bauen, hat sich in Luft und Träumereien aufgelöst. Eine neue Arena in Genf – die aktuelle ist 1961 für die WM gebaut worden, galt damals als modernste Europas und ist heute die schäbigste der Liga – ist und bleibt ein Luftschloss.
Nun ist er an einem neuen Ort als charismatischer Luftschloss-Architekt tätig. In Sierre wollen Schweizer Investoren insgesamt gut 100 Millionen für ein Projekt ausgeben und rund 70 Millionen davon sind für die Sportinfrastruktur (also ein Hockeystadion etwas grösser als in Visp) vorgesehen. Einen neuen Tempel hat der HC Sierre wahrhaftig nötig: Die Graben-Halle ist das mit Abstand baufälligste Stadion der beiden höchsten Ligen.
So wie Sébastien Pico ist auch Chris McSorley ein Meister der Umgarnung. Er lädt ins «Château de Villa» ein. Und sorgt nebenbei für ein Erweckungserlebnis beim Chronisten. Die Frage ist ja, warum es die Walliser einfach nicht zustande bringen, ihre Hockeykräfte zu bündeln. Aus den drei SL-Klubs Sierre, Martigny und Visp könnte ein bäumiges Hockeyunternehmen in der höchsten Liga werden. Im «Château de Villa» werden als ganz besonderes gastronomisches Highlight mehrere Sorten Raclette aus den verschiedenen Tälern von einem kulinarischen Hexenmeister zubereitet und dargereicht. Das ist die Erklärung: Wie soll ein Volk, das so viele verschiedene Raclette-Sorten produziert, dazu gebracht werden, nur noch an einen einzigen Hockeyclub zu glauben? Eben.
Anders als in Genf, wo das Stadion-Luftschloss schon an der Standortfrage scheiterte, ist in Sierre klar, wo gebaut werden soll: Dort, wo sich heute der Fussballplatz befindet. Gleich beim Bahnhof und mit der Möglichkeit eines Autobahn-Anschlusses. Es gibt nur ein kleines Problem: Die Steuerzahlenden sollen sich mit 30 Millionen an diesem Luftschloss in Sierre beteiligen. Chris McSorley sagt: «Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir grünes Licht erhalten.» Und schwärmt, das ganze Projekt sei eine riesige Chance für die ganze Region. Und was ist, wenn die Abstimmung über die Beteiligung der öffentlichen Hand im nächsten Frühjahr scheitert? «Dann ist Lichterlöschen». Und er könnte sich dann wieder vollzeitlich seiner wahren Passion zuwenden: Bei Servette vor Gericht eine Abfindung von 7,6 Millionen erstreiten. Demnächst ist in der Sache der nächste Termin angesetzt. Sein Optimismus kann nicht einmal die Anmerkung schmälern, dass wir vor Gericht und auf hoher See alle in Gottes Hand sind.
Mit einer politischen Niederlage in Sierre rechnet er natürlich nicht. Und sobald das Stadion bewilligt sei, werde sich über Nacht alles verändern. «Wie in Genf werden wir hier ein neues, konkurrenzfähiges Team aufbauen.» Die Finanzierung sei schon gesichert. Angeblich stehen 12 Millionen bereit für Investitionen in die erste Mannschaft. Aufstieg in die NL 2027, 2027 und auf jeden Fall vor dem jüngsten Tag.
Es gibt ein kleines Problem. Die Zeiten sind anders als damals in Genf, als Chris McSorley ab 2001 mit dem Aufbau eines konkurrenzfähigen Teams für die höchste Liga begonnen hat: Inzwischen gibt es nicht mehr 12, sondern 14 NL-Teams. Auch wenn die Erhöhung der Anzahl Ausländer (auf inzwischen 6 pro Mannschaft) das Angebot an Spielern erhöht: Es ist heute nahezu unmöglich, auf dem Markt genügend Schweizer Spieler für ein Team zu finden, das erstens die SL gewinnt und zweitens in der Liga-Qualifikation auch noch den NL-PlayoutVerlierer bodigt. Zumal ja auch Lokalrivale Visp emsig an einem sportlichen Luftschloss (Aufstieg) arbeitet.
Vollends absurd ist es, wenn im Wallis im Abstand von rund 30 Kilometer zwei nigelnagelneue Hockeystadien stehen. Eine NHL-Arena im Westentaschenformat in Visp und zusätzlich auch noch in Sierre. Und woher sollen die Fans kommen, wenn es nicht einmal gelingt, für ein Walliser Derby das Stadion in Visp zu füllen?
Die Frage ist, was im Sport-Wunderland Wallis zuerst Wirklichkeit wird: a) Olympische Winterspiele, b) Sébastien Pico im Walliser Staatsrat, c) eine durchgehende Autobahn bis Visp, d) eine Abfahrt in Zermatt, e) ein neues Stadion in Sierre oder f) eine Rückkehr von Visp oder Sierre in die höchste Liga.
Der Chronist tippt auf a).