Ein ganz grosser Auftritt. Ein Hauch von Hollywood im Gotthelf-Land. Der «Hockeypapst» kommt nach Langnau.
Die Agentur Keystone-SDA weist ihren Fotoreporter Marcel Bieri am Samstagvormittag an, sich schon um 17.00 Uhr in Langnau vor dem Hockeytempel einzufinden. Um ja die Ankunft der Zürcher nicht zu verpassen und den neuen ZSC-Trainer Arno Del Curto gleich beim Verlassen des Teambusses abzubilden.
Der tüchtige Foto-Veteran sagt, so etwas habe er noch nie erlebt. Das will etwas heissen. Schliesslich ist er schon seit bald 30 Jahren damit beauftragt, die Taten der Langnauer in Lichtbildern festzuhalten. Seit den Zeiten, als der Klub noch SC Langnau hiess und in der in der 1. Liga spielte.
Der Bezahlsender «MySports» hat gegenüber der Spielerbank eine zusätzliche TV-Kamera installieren lassen. Um jede Regung des ZSC-Trainers einzufangen. Auf einem separaten Kanal («Arno-TV») kann der interessierte Zuseher oder die interessierte Zuseherin während des ganzen Spiels das Wesen und Wirken des neuen «Bandengenerals» live verfolgen.
Die ominöse Arno-Cam, die heute immer auf Neo-ZSC-Coach Del Curto gerichtet sein wird. Vis-à-vis Spielerbänke hoch oben. @zsclions pic.twitter.com/N7wa43B4qB
— Simon Graf (@SimonGraf1) 18. Januar 2019
Das staatstragende Fernsehen lässt sich auch nicht lumpen und hat einen mit den lokalen Verhältnissen seit Jahren vertrauen Reporter mit Kameramann nach Langnau entsandt.
Stephan Roth, der rasende Reporter des Boulevards («Blick»), ist mit einer versierten, erfahrenen Video-Spezialistin angereist. Um online einen Zwischenbericht ins Land hinaus zu senden.
Einen solchen Aufwand bloss wegen einer Person hat es in der Geschichte der Langnauer Hockeykultur noch nie gegeben. Die hat immerhin schon 1946 begonnen. Und die Zürcher haben in den letzten 150 Jahren erst viermal um eine Einzelperson ein vergleichbares Spektakel veranstaltet.
1913 beim Manöver-Besuch des Deutschen Kaisers Wilhelm II., 1946 bei der historischen Rede des britischen Premiers Winston Churchill in der bis auf den letzten Platz gefüllten Aula der Uni, 1971 vor dem Boxkampf von Muhamad Ali im Hallenstadion gegen Jürgen Blin und 1977 beim Engagement des damaligen Fussball-Weltstars Günter Netzer bei GC.
Arno Del Curto auf Augenhöhe mit Kaiser Wilhelm II., Winston Churchill, Muhamad Ali und Günter Netzer. Nicht schlecht.
Wahrlich, noch nie hat ein Trainerwechsel so hohe Erwartungen geweckt und einen solchen Medienrummel provoziert.
Das Emmental ist protestantisch. Sonst könnten wir keck behaupten, wahrscheinlich hätte nicht einmal ein Papstbesuch eine so hitzige mediale Erregung ausgelöst. Mit ihrem Trainerwechsel bewegen die ZSC Lions mehr als GC oder der FCZ während einer ganzen Fussball-Saison.
Und was sind nun die Auswirkungen dieses hockeytechnischen Papst-Besuches auf dem Eis? Auf das Verhalten und den Formstand der ZSC-Spieler?
Die Beurteilung einer Mannschaft nach einem Kommandowechsel an der Bande ist so eine Sache. Sie ähnelt den Nöten eines unglücklich und schmachtenden Liebenden, der jede Regung seiner Angebeteten als Zeichen der Zuneigung deutet. Alles, was nun gut ist, wird dem segensreichen Wirken des neuen Trainers zugeordnet.
Aber die Zeichen lassen vorerst auf sich warten. Selbst der jeder Polemik abholde Abgesandte der vornehmen NZZ stimmt der Analyse zu, wenn noch immer Serge Aubin an der Bande stünde, dann würde man jetzt sagen, ein Trainerwechsel sei dringend von Nöten. Es sei offensichtlich, dass die selbstzufriedenen Zürcher einen feuerköpfigen Trainer brauchten. Einen, der dazu in der Lage sei, Leidenschaft zu entfachen und Lauf- und Tempohockey zelebrieren zu lassen.
Einen wie Arno Del Curto.
Aber Arno Del Curto ist ja da. Und alles ist nach wie vor so, wie es schon im August, im September, im Oktober, im November, im Dezember und Anfangs Januar unter Serge Aubin war. Das Tempo ist hoch, aber alles in allem nicht hoch genug. Der Wille ist gross, aber alles in allem nicht gross genug.
Langnau verwertet das erste Powerplay zum 1:0 (18. Minute) und das sollte bereits die Entscheidung sein. Damiano Ciaccio, der beste Torhüter der Hockey-Weltgeschichte ohne Länderspiel, feierte nach dem 3:0 gegen Zug, dem 4:0 gegen Biel nun den dritten «Heim-Shutout» in Serie.
Item, auch Arno Del Curto, der «Hockey-Papst» ist halt nur ein Mensch. Er kann zwar übers Eis gleiten, aber nicht übers Wasser gehen und keine Hockey-Wunder vollbringen. Und er hat Pech: er trifft bei seinem Debut auf ein grosses Langnau (mit dem grossen Trainer Heinz Ehlers), dem ein perfektes Spiel gelingt.
Es ist mit ziemlicher Sicherheit die taktisch beste Partie, die in dieser Saison einer Mannschaft gelungen ist. Die Zürcher dominieren zwar mehrheitlich (33:22 Torschüsse). Aber das himmlische offensive Sausen und Brausen, das sich alle insgeheim von Arno Del Curto erhofft haben, ist (noch) ausgeblieben.
In einer dramatischen Schlussphase haben die ZSC Lions ihre besten Momente und doch gelingt der Ausgleich nicht mehr.
Nach seinem ersten grossen Auftritt gibt es für den neuen Trainer keinen Applaus. Aber hier wenigstens ein bisschen Trost aus der Geschichte. 1991 verlor Arno Del Curto beim Debut mit dem ZSC in Zug (2:6) und gleich noch in Olten (4:5). Aber dann rockte er die Liga mit zwei Siegen gegen Olten (7:0) und in Ambri (6:4) ein bisschen, ehe es in Chur wieder eine Niederlage absetzte (2:5). Am Ende reicht es für die Playoffs.
1996 begann er seine Arbeit in Davos mit einem 0:4 gegen Zug, veranstaltete aber sogleich ein Spektakel mit Siegen in Ambri (6:4) gegen Lugano (4:3) und den ZSC (8:5), ehe er in Fribourg wieder verlor (3:4). Er schafft schliesslich die Playoffs.
Heute Abend hat Arno Del Curto bereits die Gelegenheit zur Revanche. Wieder gegen die SCL Tigers. Im Hallenstadion.
Wenn der Sieg gelingt, ist die Magie wieder da. Dann werden die medialen Posaunen geblasen und die Hosianna-Gesänge intoniert.
Ach, wird das im Falle eines Triumphes ein Rühmen und Lobpreisen sein! Mit der Botschaft, die wundersame Wende gegen die himmelhohen Favoriten und Titanen sei dem Hockey-Druiden aus den Bergen zu verdanken. Wie in Davos darf Arno Del Curto dann den Gegner mit dem Verweis auf die Tabellenlage stark reden. «Nein, nein» wehrt er sich. «So ist es nicht. Dann ist es der Sieg der Mannschaft. Die Spieler sind die Gladiatoren.» Der Chef der Gladiatorenschule hiess im alten Italien Gladiatorenmeister. Arno Del Curto als Campione del Gladiatore.
Der neue ZSC-Trainer wirkt nach seinem missglückten Debut ruhig und gelassen. «Ich war es auch während des Spiels. Ich habe trotz allem ein gutes Gefühl. Denn mit dieser Mannschaft ist sehr viel möglich.» Vieles habe ihm gefallen, auch das Engagement der Spieler.
Der grosse «Bandengeneral» spricht mit heiserer, leiser Stimme. Weil er getobt hat? «Nein, weil ich in den letzten Tagen so viel reden musste.» Die Spieler haben also den tobenden, den wahren Arno Del Curto noch nicht erlebt? Er mag auf diese wiederholt gestellte Frage nicht antworten und sagt schliesslich: «Ich lasse mich nicht aufs Glatteis locken.»
Hockey Fanradio News
— Verein Hockey Fanradio (@hockeyfanradio) 19. Januar 2019
die @zsclions verlieren das erste Spiel mit Arno del Curto an der Bande in Langnau knapp mit 0-1. Hier die Worte zum Spiel des neuen ZSC Head Coach Arno del Curto:
- pic.twitter.com/H98LdVbpN1
Nun möge die geneigte Leserin oder der geneigte Leser ein Bier holen oder die Kaffee-Maschine zischen lassen und erst dann weiterlesen. Der Chronist hat nämlich noch eine Hockey-Geschichte zu erzählen. Über einen anderen Trainer, der vor nicht allzu langer Zeit als «Hockey-Gott» verehrt worden ist. Über Kevin Schläpfer. Auch er hatte diese Woche einen grossen, von der Öffentlichkeit aber nicht beachteten Auftritt.
Mittwochabend kurz nach 19.00 Uhr. Wir befinden uns in der Aula der Kantonsschule Solothurn. Mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder hängen Kevin Schläpfer über eine Stunde lang an den Lippen. Der «Hockey-Gott» in der Aula.
Es ist eine Laune des Schicksals, dass Kevin Schläpfer und Arno Del Curto, zwei der charismatischsten Persönlichkeiten unseres Hockeys, diese Woche unter so unterschiedlichen Voraussetzungen auf der Bühne stehen. Arno Del Curto als neuer Trainer der ZSC Lions im Scheinwerferlicht der nationalen Aufmerksamkeit. Kevin Schläpfer als Vortragsredner in der Aula einer Kantonsschule
Ein kurzer Blick zurück: Im Herbst 2015 ist Kevin Schläpfer mindestens so berühmt wie Arno Del Curto. Die Bieler huldigen ihn als «Hockey-Gott». Er könnte Nationaltrainer werden. Als er den Verzicht auf das Amt erklärt, um in Biel zu bleiben, bricht er vor laufenden Kameras in Tränen aus.
Die Hockey-Nation ist gerührt. Tränen in diesem archaischen Business der rauen Kerle. Das gibt es wahrlich selten. Zu diesem Zeitpunkt ist Arno Del Curto Trainer beim HC Davos. Auch er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes: er hat soeben im Finale gegen die ZSC Lions die Meisterschaft gewonnen. Sein 6. Titel.
Nach der Entlassung in Biel ein gutes Jahr später gelingt Kevin Schläpfer die Rückkehr auf die grosse Bühne nicht mehr. In Kloten wird er Anfang April 2018 vor der Liga-Qualifikation gegen die Rapperswil-Jona Lakers gefeuert.
Während Arno Del Curto nur 48 Tage nach seinem Rücktritt als HCD-Trainer in Zürich schon wieder Arbeit und öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat, ist Kevin Schläpfer nun schon seit mehr als einem halben Jahr arbeitslos und aus den Medien verschwunden.
Wenigstens ist er nicht beschäftigungslos. Er hilft bei der Trainerausbildung oben in Magglingen und führt da und dort Bewerbungsgespräche («Es tut sich etwas, aber ich kann noch nichts verraten…»). Und er tritt ab und zu öffentlich auf. Nicht mehr in den grossen Arenen, nicht mehr auf der grossen Bühne. «Nur» noch im kleinen Kreis. Wie am letzten Mittwochabend in er Aula der Kantonsschule zu Solothurn.
Der Eintritt ist gratis. Das Thema: «Mit aller Härte, ohne die Menschlichkeit zu verlieren.»
Es ist auch eine Reise weit, weit zurück in die Vergangenheit. Auf dem Weg zur Aula durch die Gänge dieser «Schulhausgeruch», der Erinnerungen an längst vergessene Zeiten weckt. Während sich die Aula nach und nach füllt bis praktisch alle der 300 Plätze besetzt sind, ist Kevin Schläpfer unauffällig am Rande der Bühne mit den Vorbereitungen beschäftigt. So wie er wohl früher in seinem Trainerbüro in Biel und im Schluefweg die Übungsstunden mit seinen Jungs präpariert hat.
Und dann, nach kurzer Begrüssung durch den Schulleiter, betritt er die Bühne, füllt den Raum und packt das Publikum. Charismatisch. Der wahre Kevin Schläpfer.
Er erklärt am Beispiel seiner wohl dramatischsten Zeit, wie mit aller Härte und doch auf menschliche Art und Weise eine dramatische, eigentlich aussichtslose Situation gemeistert hat. Wie positive Energie geweckt werden kann.
Es geht um die Liga-Qualifikation gegen Lausanne im Frühjahr 2009. Als er als Sportchef in Biel nach einem Rückstand von 0:2 seinen Freund und Trainer Heinz Ehlers feuert, eine völlig verunsicherte Mannschaft übernimmt und schliesslich im 7. Spiel den Liga-Erhalt schafft.
Kevin Schläpfer erzählt mit entwaffnender Offenheit aus seinem Leben, seiner damals schwierigen privaten Situation (Scheidung), wie er froh ist um die Ablenkung durch die Arbeit, wie er mit sich gerungen hat, ob er diesen scheinbar aussichtslosen Aufgabe überhaupt annehmen soll, wie er schliesslich die positive Energie in die Mannschaft zurückbringt, wie er auf die einzelnen Spieler eingeht.
Wären Kameras im Saal auf ihn gerichtet (wie im Ilfisstadion in Langnau auf Arno Del Curto) würde er kaum mit dieser Offenheit reden.
Kevin Schläpfer «unplugged». Er tigert auf der Bühne hin und her. Adrenalin fliesst wieder in seinen Adern, fast, aber nur fast, wie in jener grossen Zeit, als er noch ein grosser Bandengeneral war. Es gibt faszinierende Einblicke in sein Leben und in die Arbeit eines Hockeytrainers. Grossartige Unterhaltung.
Als er am Ende mit einer Mischung aus Trotz und Melancholie sagt: «Ich wäre mit Kloten nicht abgestiegen», bekommt er minutenlangen, tosenden Applaus.
Auf diesen Applaus muss Arno Del Curto noch ein wenig warten. Mindestens bis heute Abend. Und vielleicht hilft ihm ja Kevin Schläpfers Vortragsthema: «Mit aller Härte, ohne die Menschlichkeit zu verlieren.»