Der Titel des Wintermeisters, das heisst es gerne, sei einer ohne Wert. Aber das lässt sich leicht widerlegen, ein Blick in die Fussball-Geschichtsbücher reicht dazu schon. Seit 2004, dem Jahr, in dem aus der Nationalliga A die Super League wurde und aus der Zwölfer- eine Zehner-Liga, seit diesem Jahr gab es 18 Wintermeister. Und 14 von ihnen standen auch im Sommer darauf zuoberst, Quote: fast 80 Prozent. Platz 1 zur Saisonhälfte ist vielleicht noch nicht alles, aber doch schon ziemlich viel.
Der aktuelle Wintermeister heisst FC Zürich. Er war als Aussenseiter gestartet, aber dann hat er eine Vorrunde erlebt, die irgendwann an diesen Spruch von Gary Lineker erinnerte: Fussball ist, wenn 22 Spieler dem Ball nachjagen – und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Oder eben, Super League, Ausgabe 2021/22: die Zürcher.
40 Punkte hatte das Team von André Breitenreiter am Ende gewonnen, eine Ausbeute, mit der selbst die einstigen Serienmeister aus Basel und die aktuellen aus Bern zufrieden gewesen wären. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Zürcher dabei ziemlich hochtourig unterwegs waren. Soll heissen: am oberen Limit. Es gibt da diese Tabelle, die aufzeigt, wie viele Punkte ein Team aufgrund der Qualität seiner Torchancen und der des Gegners hätte gewinnen sollen. Man kann an ihr ganz gut ablesen, wer gerade über seinen Verhältnissen klassiert ist und wer darunter.
In dieser Tabelle belegt der FC Zürich den dritten Platz, klar hinter den Young Boys und sogar noch hinter Servette.
Aber wie heisst es doch so schön: die Wahrheit liegt auf dem Platz. Und stehen tut sie in der Tabelle. Dort liegt der FC Zürich vorne, gleich mit sieben Punkten Vorsprung auf den FC Basel und acht auf Titelverteidiger YB.
Nun ist ein solches Polster in erster Linie etwas Schönes. Man steht zuoberst, hat die Dinge im Griff und die Gegner von oben im Blick. Es lebt sich gut an der Spitze, aber es ist nicht so, dass dort alles einfach wäre. Vorsprung bringt auch steigende Erwartungen mit sich, er lässt Hoffnungen spriessen, weckt Träume. Bringt Druck. Vorsprung, das bedeutet auch Bürde. Sieben Punkte erst recht.
Uli Forte hat in seiner Karriere viel erlebt, er war Trainer in St. Gallen, bei beiden Zürcher Vereinen, er stand bei den Young Boys an der Seitenlinie und übernahm im letzten Sommer Yverdon, den Verein aus der Challenge League. Einmal, in der Saison 2012/13, holte Forte mit GC den Wintermeistertitel, vier Punkte vor Basel.
Forte weiss, wie es ist, wenn man von zuoberst in die Rückrunde startet. Er sagt, einfach sei das nicht, man sei dann der Gejagte. Habe etwas zu verteidigen. «Der Jäger sein, im Windschatten, das ist natürlich die angenehmere Position», so Forte.
Es gibt einige Parallelen zwischen Fortes Grasshoppers von damals und der aktuellen Ausgabe des FC Zürich. Wie der Stadtrivale in diesem Jahr war GC damals nach einigen schlechten Saisons an die Tabellenspitze gerast. Als Aussenseiter, den niemand auf der Rechnung hatte. Angeführt von einem neuen Trainer, der sich als Volltreffer entpuppte. Und wie dem FC Zürich heute mit den Young Boys sass damals auch GC ein Serienmeister im Nacken, der zuvor die Liga dominierte: der FC Basel, der schon drei Titel in Folge gewonnen hatte.
Forte sagt, es sei damals nach der Winterpause viel Druck gekommen vom Favoriten aus Basel. «Sie haben ihren Kader und ihre Qualität voll ausgespielt», sagt er. GC dagegen geriet vorübergehend ins Schlingern, gewann im März nur eines von vier Spielen. Und verlor prompt die Tabellenführung. «Schwächephasen erlebt man immer», sagt Forte, «auch dem FC Zürich könnte das passieren». Die Kunst sei es dann, ruhig zu bleiben, sich nicht verrückt machen zu lassen. «Man darf nicht alles hinterfragen, sondern muss am Plan festhalten, der funktioniert hat», sagt Forte.
Ancillo Canepa, der Präsident des FC Zürich, hat zuletzt Fragen nach den Zürcher Ambitionen auf den Meistertitel elegant umkurvt. Er meinte sogar, das Titelrennen sei kein Thema, das ihn täglich beschäftige. Nur keinen Druck aufbauen, nur keine überzogenen Erwartungen schüren. Doch wie sieht es in den Köpfen der Spieler nach einer solchen Vorrunde aus? Uli Forte sagt es so: «Es ist doch klar: Jeder Fussballer will Meister werden, mit dieser Ausgangslage erst recht. Man spricht vielleicht nicht öffentlich darüber, aber man denkt an den Titel, hat ihn im Kopf.»
Mit GC reichte es für Uli Forte damals nicht, Basel liess in der Rückrunde die Muskeln spielen, am Ende wurde es Rang zwei. Es war das bisher letzte Mal, dass der Wintermeister nicht auch am Ende der Saison zuoberst stand. Zwei Jahre zuvor war der FC Luzern vom ersten auf den sechsten Platz abgestürzt.
Ein Polster von sieben Punkten, wie es der FC Zürich in die Rückrunde mitnimmt, haben seit 2004 erst zwei Mal nicht zum Titel gereicht. Der FC Basel verspielte 2006 sogar acht Zähler Vorsprung, die letzten drei in der legendären Finalissima gegen den FC Zürich. 2010 waren es die Young Boys, die ihre sieben Punkte Vorsprung auf Basel nicht ins Ziel brachten. Eine Randnotiz: Beide Male, bei Basel 2006 und bei YB 2010, stand David Degen im Kader, der heutige Präsident des FC Basel.
Wenn es für den FC Zürich gut kommen soll, dann braucht es in den Augen von Uli Forte nun zuerst einmal vor allem eines: Einen guten Start. Heisst einen Sieg zum Rückrundenauftakt am Samstag gegen Servette. Für ein paar Stunden könnte das Polster dann sogar auf zehn Punkte anwachsen. (aargauerzeitung.ch)