Wer spielt rechts hinten? Wer spielt links hinten? Es sind Fragen, die sich im Nationalteam in den letzten zehn Jahren kaum einmal gestellt haben. Auf der linken Seite unterband Ricardo Rodriguez seit 2011 jegliche Diskussionen, als rechter Verteidiger arbeitete sich Stephan Lichtsteiner ab 2007 zur internationalen Grösse hoch. Beide waren kaum einmal länger verletzt, beide lieferten konstant gute Leistungen auf gehobenem internationalem Niveau ab.
Mit 105 Auftritten für das Nationalteam ist Lichtsteiner nach Heinz Hermann (118) und Alain Geiger (112) die Nummer 3 in der Liste der Schweizer Internationalen. Dass sich der ehemalige Juventus- und Arsenal-Legionär nicht ewig auf dem höchsten Level würde halten können, war absehbar. An der WM in Russland, danach als Ergänzungsspieler bei Arsenal und nun als Stammspieler in Augsburg zeigte er zuletzt Schwächen.
Jedoch konnte man davon ausgehen, dass mit Kevin Mbabu ein valabler Nachfolger bereitstehen würde. Dazu sorgten Silvan Widmer und Michael Lang dafür, dass noch vor der WM 2018 von einem Luxusproblem auf dieser Position die Rede war.
Doch Mbabu, bei den Young Boys in den beiden Meisterjahren ein Schlüsselspieler, hat bei Wolfsburg Anpassungsschwierigkeiten, verlor in der Vorbereitung das Duell um den Platz auf der rechten Aussenbahn gegen den Brasilianer William. Er spielte fehlerhaft, als er seine Chance erhielt, und agierte auch im Nationalteam nicht so überzeugend wie bei YB.
Unter anderem machte er beim späten 1:1 gegen Irland keine gute Figur. In der Bundesliga kam der 24-jährige Genfer bislang erst während elf Minuten zum Zug, einzig in der Europa League durfte er gegen den ukrainischen Klub Oleksandrija von Beginn weg spielen. Weil es dem VfL bislang läuft, sieht der Trainer keinen Handlungsbedarf.
Ricardo Rodriguez verdrängte einst Ludovic Magnin beim FC Zürich und bald darauf Reto Ziegler in der Nationalmannschaft. Über Jahre war er so etwas wie die Inkarnation des Sprichworts «Liefern statt lafern». 67 Mal hat er bislang die linke Platzseite in der Nationalmannschaft beackert. Selten musste man ihm etwas anlasten, oft setzte er im Spiel nach vorne Akzente. Je acht Tore und Vorlagen sowie seine Qualitäten bei Standardsituationen untermauerten seinen Wert im Spiel für die Offensive.
Bis vor kurzem kannte die Karriere von Rodriguez keine Tiefen. Mit 19 Jahren schob sich der Linksfuss beim FCZ, seinem Stammklub, zügig ins internationale Schaufenster. Via Wolfsburg führte sein Weg zur AC Milan. Bei beiden Klubs aus den europäischen Topligen benötigte er keine Anlaufzeit. Jetzt, mit 27 Jahren, lernt Rodriguez erstmals das Reservisten-Dasein kennen. Sein Pech ist, dass der siebenfache Champions-League- respektive Meistercup-Sieger Milan eine turbulente Phase durchmacht. Das grosse Geld fliesst nicht mehr. Es gab Besitzerwechsel, die Mannschaft verlor an Qualität.
Als Schwachstelle machte der vor wenigen Tagen nach kurzer Amtszeit entlassene Trainer Marco Giampaolo auch die linke Abwehrseite aus. Nun ist der für 20 Millionen Euro verpflichtete Theo Hernandez, der jüngere Bruder des Bayern-Verteidigers Lucas Hernandez, einer jener Spieler, die keine Schuld am schlechten Saisonstart trifft. Rodriguez muss sich hinten anstellen, in den letzten drei Partien kam er nicht mehr zum Zug. Er könnte sich auch unter dem neuen Trainer Stefano Pioli auf der Ersatzbank finden.
Ziemlich unverhofft öffnet sich im Nationalteam also auch auf der linken Abwehrseite eine Baustelle. Loris Benito, der fünf Jahre nach dem gescheiterten ersten Ausland-Anlauf bei Benfica Lissabon in Bordeaux einen zweiten Versuch wagt, wäre die Alternative für Rodriguez.
Auf der rechten Seite muss sich Vladimir Petkovic zwischen Lichtsteiner, Mbabu und dem nach einer enttäuschenden Saison bei Mönchengladbach zu Werder Bremen gewechselten Lang entscheiden. Widmer, der seine Form beim FC Basel wieder gefunden hat, hat er nicht aufgeboten. (pre/sda)