Die Geschichte beginnt mit viel Drama. Es ist der 25. Juni 2022. Im regionalen Zürcher Cupfinal läuft die 96. Minute. Eigentlich hätte der FC Wiesendangen dieses Spiel längst gewinnen müssen. Sekunden vor dem Ende der Schock: Tor für den Gegner. Der Cupsieger heisst nicht Wiesendangen, sondern Wiedikon.
Später an diesem Abend, zurück in Wiesendangen, feiern Trainer, Spieler, Betreuer und Fans des FC Wiesendangen gleichwohl, alle zusammen auf dem Dorfplatz, schliesslich ist so ein Cupfinal nichts Alltägliches. Plötzlich fährt ein Auto vor. Am Steuer: Abimbola Akanji. Der Vater des Schweizer Weltklasse-Fussballers Manuel Akanji. Er hat ein paar Flaschen Champagner im Gepäck. «Ein kleiner Gruss von Manuel. Lasst euch trotzdem feiern!»
Wiesendangen ist der Jugendklub von Manuel Akanji. Ein Dorfklub erster Güte. Auf dem Sportplatz Rietsamen macht Akanji seine ersten Erfahrungen im FC. Er ist Teil der ersten «Piccolos» im Verein.
Nicole Osta ist Vereinsfotografin des FC Wiesendangen, seit über 20 Jahren schon, so genau weiss sie das auch nicht mehr. Sie erlebte Akanjis erste Versuche als Fussballer aus nächster Nähe mit. Ihre Söhne sind Teamkollegen. Ihr mittlerweile verstorbener Mann Enrico der erste Trainer von Akanji. «Manuel war schon in jungen Jahren ein feiner, anständiger Kerl, ich hatte ihn immer gerne bei uns», erinnert sich Nicole Osta.
Am 3. Juli 2007, also kurz vor seinem 12. Geburtstag, wechselt Akanji zum FC Winterthur. Weil die FIFA später das Reglement für die Solidaritätszahlungen anpasst (massgebend ist neu das komplette zwölfte Lebensjahr), erhält der FC Wiesendangen im letzten Sommer 11'000 Euro aus der Transfersumme von 17,5 Millionen, die Manchester City für Akanji nach Dortmund überweist. Im Verlauf der Saison sind weitere Bonuszahlungen fällig geworden. «Dann hat sich Manchester City jeweils wieder per E-Mail an uns gewandt mit der Nachricht, wir dürfen eine Rechnung schreiben», erzählt Vize-Präsident Michael Bernhard. «Ich muss sagen, das ist ziemlich vorbildlich und toll, wie sich City verhält.»
Auch als Akanji bereits beim FC Winterthur spielt, hält er regelmässigen Kontakt zum FC Wiesendangen. «Wenn er Ferien oder sonst gerade Zeit hatte, kam er wieder vorbei, spielte zusätzlich auch noch bei uns», erinnert sich Bernhard.
Im Nachwuchs des FC Winterthur deutet während diesen Jahren noch nichts darauf hin, dass Akanji einmal ein Weltstar wird. Im Gegenteil. Von Zeit zu Zeit muss er bangen, überhaupt den Sprung in die nächste Junioren-Stufe zu schaffen. «Eigentlich rechneten wir schon einige Male damit, dass Manu bald zurückkehrt», erinnert sich Bernhard, «er entgegnete jeweils lächelnd: ‹Solange es mir reicht, bleibe ich noch bei Winti.›»
Doch dann geht es plötzlich schnell. Im Sommer 2014 übernimmt Jürgen Seeberger bei Winterthur als Trainer. Er ist gewillt, Akanji eine Chance in der Challenge League zu geben. «Talentiert. Aber noch nicht geschliffen. Das war mein erster Eindruck damals», sagt Seeberger.
Akanji hält gut mit in der Challenge League. Schon bald steht das erste grosse Spiel an. Im Cup, gegen den FC Basel. Es ist der 21. September 2014. «Was an diesem Sonntagnachmittag passierte, war wegweisend für ihn», sagt Seeberger. Breel Embolo, eineinhalb Jahre jünger als Akanji, ist zu dieser Zeit der aufregende Shootingstar im Schweizer Fussball. Drei Tore schiesst er beim 4:0-Sieg des FCB. Seeberger sagt: «Akanji spielte keineswegs schlecht – aber er musste ziemlich viel Lehrgeld bezahlen.»
Im Rückblick ist dieses Cup-Spiel ein kleiner Erweckungsmoment. Akanji realisiert, wie viel er noch investieren muss, um an die Spitze zu kommen. Seeberger sagt: «Der Wechsel vom Junioren-Fussball zu den Profis – das ist wie eine neue Sportart.» Eines aber ist Seeberger schon ganz früh aufgefallen an Akanji: «Nervenstärke und Fussball-Intelligenz, die Dinge also, die man eigentlich gar nicht lernen kann, die zeichneten ihn von Anfang an aus.»
Es sind solche Attribute, die in der Fussball-Schweiz ziemlich rasch auffallen. Ein Jahr nur spielt Akanji in Winterthur, ehe er im Sommer 2015 zum FC Basel weiterzieht. Bernhard Heusler ist damals Präsident des FCB und von der Idee einer Verpflichtung Akanjis ziemlich angetan. Wie ist dieser Transfer zustande gekommen? Heusler erinnert sich explizit an einen Scouting-Report von Josip Colina. «Was da über einen Challenge-League-Spieler stand – das habe ich in dieser Form noch nie gesehen.» Tenor: Akanji sei nicht einer für die Super League, sondern zu Höherem berufen. «Das war schon aussergewöhnlich. Zudem hatten wir beispielsweise mit Fabian Schär, der aus Wil zum FCB kam, gute Erfahrungen gemacht.»
In Basel wird Akanji bald auf die Probe gestellt. Es scheint, als wäre sein Körper den höheren Rhythmus tatsächlich noch nicht gewohnt. Verletzungen sind die Folge. Zuerst muskulär. Dann der Schock: Kreuzbandriss.
Es gibt Fussballer, die an einem solchen Rückschlag zerbrechen. Bei Akanji ist das Gegenteil der Fall. Heusler erinnert sich: «Er strahlte eine innere Ruhe und Sicherheit aus, die ziemlich beeindruckend war. Er vermittelte uns jederzeit das Gefühl, er komme stärker zurück. Hadern mit dem Schicksal? Das gab es bei ihm nie.» Der gute Umgang mit der Verletzung zeigte sich für Heusler auch an Details. «Er war stets präsent in der Garderobe. Er hat nie den Eindruck vermittelt, dass ihn das Team nur dann interessieren würde, wenn er auch spielt.»
Und so wird das Jahr 2017 das Jahr des grossen Durchbruchs. Beim FCB erobert er sich scheinbar spielend einen Stammplatz. Verhilft dem Verein zum Abschied von Trainer Urs Fischer, Sportchef Georg Heitz und Präsident Heusler zum Double. Es folgen die ersten Auftritte in der Champions League. Die ersten Länderspiele. Darunter die nervenaufreibende WM-Barrage gegen Nordirland. «Es hat etwas Faszinierendes, wie cool er diese Spiele bei dieser Ausgangslage runtergespielt hat», sagt Jürgen Seeberger.
Zur selben Zeit, im Herbst 2017, gerät in Deutschland Borussia Dortmund in eine grosse Krise. Unter Peter Bosz ist die BVB-Defensive je länger je mehr eine Horror-Kabinett. Eigentlich hat Dortmund geplant, Manuel Akanji erst im Sommer zu verpflichten. Zumal Sportdirektor Michael Zorc überhaupt kein Freund von Wintertransfers ist.
Doch die Not ist zu gross. Also wird der Akanji-Transfer vorgezogen. Gut 20 Millionen Euro erhält der FCB. Wie wichtig Akanji in so kurzer Zeit bereits geworden ist, wird den Baslern rasch schmerzlich vor Augen geführt. Der Absturz ist fundamental. Der Titel geht an YB verloren.
Akanji erkämpft sich auch in Dortmund rasch einen Stammplatz. An der WM 2018 ist er bereits der Schweizer Abwehrchef. Ein grandioser Auftritt beim 1:1 gegen Brasilien weckt Fantasien. «Wird er der erste Schweizer Weltstar?», übertitelt die «Aargauer Zeitung» ein Porträt über Akanji.
Rasch einmal aber wird auch für Akanji offensichtlich, dass der Wind im Bundesliga-Alltag rau sein kann. Sebastian Wessling ist Leiter der Sportredaktion der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, begleitet den BVB seit vielen Jahren. Er erinnert sich: «Er war stets irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Etwas dazwischen kam selten vor.» Eine feste Grösse in der BVB-Abwehr zwar, aber immer mal wieder auch für einen Bock gut.
Auch neben dem Platz eckt Akanji in dieser Zeit mit seiner starken Persönlichkeit manchmal an. Als Mats Hummels nach Dortmund zurückkehrt, muss Akanji für diesen aus dem Captain-Team weichen. Er empfindet das als Kränkung. Dass er dafür in den Mannschaftsrat gewählt wird, ist kein Trost für ihn. Akanji verzichtet. Das kommt im Verein nicht besonders gut an. Dass die ganze Geschichte öffentlich wird schon gar nicht.
Dann kommt die Saison 2021/22. Und diese Saison ist richtig gut. Ausgerechnet in der besten Phase aber kommuniziert Akanji gegenüber dem Verein, dass er den im Sommer 2023 auslaufenden Vertrag nicht verlängern wird, weil er eine Veränderung sucht.
Die Enttäuschung darüber ist gross in Dortmund. Der BVB verpflichtet mit Nico Schlotterbeck und Niklas Süle vorzeitig Ersatz. Als die Saison beginnt und ein Transfer von Akanji weiter auf sich warten lässt, findet er sich auf der Tribüne wieder. Die Nervosität auf beiden Seiten steigt.
Der 1. September naht, und damit der Transferschluss. In Dortmund richten sie sich schon darauf ein, eine schwierige Situation zu moderieren. Derweil steigen in Manchester bei Pep Guardiola die Sorgen. Mit Nathan Aké und Aymeric Laporte fallen zwei Verteidiger aus. Dazu plagt ihn die Erinnerung an vergangene Zeiten, als City im Saisonendspurt plötzlich die Spieler ausgehen.
Akanji erhält eine Nachricht von Erling Haaland, seinem langjährigen Mitspieler bei Dortmund, der ebenfalls im Sommer von Dortmund zu City gewechselt hat. Haaland schreibt, er höre vom Interesse des Vereins. «Da bin ich vielleicht einer von fünf», schreibt Akanji zurück. Haaland insistiert noch einmal, teilt Akanji mit, dass sich der Verein bei ihm erkundigt habe.
Die Referenzen müssen gut sein. Einige Tage später ist der Last-Minute-Deal perfekt. 17,5 Millionen Euro überweist Manchester City nach Dortmund für Akanji, 27-jährig mittlerweile. Schnell zeigt sich: Der Transfer ist ein Glücksfall, für beide Seiten. «Ein Geschenk!», jubelt Trainer Pep Guardiola. Begeistert von Akanjis Auffassungsgabe. «Man muss ihm die Dinge genau ein einziges Mal erklären – und er begreift es sofort.» Die Befürchtungen in der Schweiz, dass Akanji zu wenig Einsatzzeiten erhält, lösen sich jedenfalls rasch auf.
Als der Wechsel offiziell ist, wird Akanji zu Beginn eines Interviews gefragt: «Was machen Sie am 10. Juni 2023?» Akanji überlegt. «Ist dann der Champions-League-Final?», fragt er zurück. Und ergänzt: «Dann hoffe ich, dass wir an diesem Abend die Champions League gewinnen.»
Nun könnte es genau so kommen. Es wäre der dritte Titel für Akanji im ersten City-Jahr. Der Höhepunkt einer bemerkenswerten Geschichte. Aber Achtung, Manchester City war noch immer für ein bisschen Drama gut.