Im Namen all meiner Leute … dieses Mantra wird ein wenig, oder sogar oft in den Köpfen der Franko-Marokkaner sein, wenn am Mittwoch in Doha das WM-Halbfinale Frankreich gegen Marokko beginnt.
Ein wenig oder gar viel von dieser Dankbarkeit gegenüber Vätern und Müttern. Ein wenig oder sogar viel von diesem Gefühl der Schuld gegenüber denen, die jetzt alt sind und eines Tages die Reise von Marokko nach Frankreich antraten. Wo das Leben nicht einfach war. Wo dennoch alles unternommen wurde, damit die Kinder eine Zukunft in einem Land hatten, das ihnen durch die Familienzusammenführung eine solche bot. Es begann ein neues Leben mit vielen Problemen.
Es ist die migrantischen Gründungserzählung, die dieses Spiel so besonders macht. Aber dieses Halbfinalspiel ist viel mehr, als es ein Frankreich-Portugal oder das Dilemma der Doppelstaatsbürgerschaft sein könnte. Zur Migrationsgeschichte kommen die koloniale Vergangenheit Frankreichs sowie die arabische und religiöse Dimension hinzu, die von der marokkanischen Mannschaft getragen wird.
«In politischer Hinsicht ist das Spiel weniger explosiv als Frankreich gegen Algerien, aber es bleibt sehr emotional», sagt der algerisch-französische Journalist und ehemalige Stimme des Radiosenders Beur-FM, Abdelkrim Branine. Es sei daran erinnert, dass seit über 20 Jahren Spiele zwischen Frankreich und einer nordafrikanischen Mannschaft auf französischem Boden Anlass zur Sorge geben.
Werden die marokkanischen Spieler am Mittwoch im Al-Bayt-Stadion von Emotionen übermannt? Wird das historische Problem das französische Team lähmen? Oder wird es eine Party, eine wunderschöne Party, wie sich die meisten zweifellos wünschen, im Glauben, dass sie siegen werden, egal wer gewinnt?
Es gibt viel Marokko in diesem Frankreich, in dem 1,5 Millionen Marokkaner leben, darunter 670'000 mit doppelter Staatsbürgerschaft (Zahlen von 2015). Und es gibt einen französischen Anteil bei den Atlas-Löwen, angefangen bei ihrem Trainer Walid Regragui, einem Kind aus Corbeil-Essonnes in der Nähe von Paris.
«Der in Paris geborene Sofiane Boufal, der linke Flügel der Atlas-Löwen, spielt bei Angers, einem Verein der Ligue 1, ebenso wie der Mittelfeldspieler Azzedine Ounahi, der in Katar ebenfalls dabei ist», erinnert Abdelkrim Branine, Autor des Romans «Le Petit Sultan» (Zellige Verlag) über das Fussballmilieu. «Es war Boufal,» greift Branine auf, «der seine Mutter auf das Spielfeld holte und mit ihr nach dem Sieg gegen Portugal tanzte.»
Morocco's Sofiane Boufal celebrating with his mother is EVERYTHING.
— Ahmed Ali (@MrAhmednurAli) December 10, 2022
pic.twitter.com/h3XdhTeKe3
Dieses Spiel hat offensichtliche emotionale und geopolitische Aspekte. Am Mittwoch werden die Marokkaner in gewisser Weise ein Heimspiel haben. Die Begeisterung in der arabischen Welt für Marokko ist grenzenlos. Die Alawiten-Monarchie ist mit der «Arabität» einer ganzen Region ausgestattet, die noch nie zuvor in dieser Phase des grössten Sportanlasses der Welt vertreten war.
Die diplomatischen Streitigkeiten sind angesichts der historischen Situation des Augenblicks nicht von Bedeutung. Während die Grenze zwischen Algerien und Marokko wegen des Streits um den Status der 1975 von Marokko annektierten Westsahara geschlossen ist, begrüssten sich zahlreiche Algerier und Marokkaner auf beiden Seiten der Grenze nach dem Sieg der «Atlaslöwen» im Viertelfinal gegen Portugal.
La frontière 🇲🇦🇩🇿 après le match #MARPOR pic.twitter.com/WIcEfQBOio
— LeDeradicaliste (@naiim75012) December 11, 2022
Das vereinende Symbol einer arabischen Mannschaft im Halbfinale der Fussballweltmeisterschaft ist so stark, dass Marokko zum Sprachrohr palästinensischer Anliegen geworden ist. Marokkanische Spieler scheuten sich nicht, während des Turniers die Farben Palästinas zu tragen. Wie wenn sie ihren König leugnen würden, der 2020 das Abraham-Abkommen unterzeichnete, das die Beziehungen zwischen Marokko und Israel normalisierte und im Gegenzug dafür sorgte, dass die USA die Souveränität Marokkos über die Westsahara anerkennen.
In Frankreich brachte diese Geste der Solidarität mit den Palästinensern den französischen Journalisten Georges-Marc Benamou in Rage. Auf dem israelischen Sender «I24News» forderte er «den König und seine Minister auf, sich zu entschuldigen». Die Gegenseite reagierte.
Mais quelle arrogance !!!
— Taoufiq TAHANI (@TaoufiqTahani) December 10, 2022
Georges-Marc Benamou aimerait bien que le roi du Maroc, ses ministres et l'ambassadeur du Maroc en France fassent un communiqué pour s'excuser du fait que l'équipe marocaine de football ait brandit le drapeau palestinien. pic.twitter.com/GFTAtgmbqS
Die traurigsten und am wenigsten verbindenden Leidenschaften werden zweifellos in Frankreich geäussert, wo Konfrontationen befürchtet werden. Die Angst, von der arabisch-muslimischen Bevölkerung überrollt zu werden, nährt die Ablehnung, die durch Bilder von Zusammenstössen am Rande der marokkanischen Feierlichkeiten während dieser Weltmeisterschaft noch geschürt wird.
A chaque victoire du #Maroc, les mêmes scènes de violences en #France 🇫🇷.
— Matthieu Valet (@mvalet_officiel) December 10, 2022
Sur les Champs Élysées, à #Lille ou comme ici à #Roubaix, des voyous tirent des mortiers, caillassent et prennent à partie les #policiers.
L’impunité pénale arme ces délinquants qui se croient tout permis! pic.twitter.com/lWrALAtp2b
Auf BFMTV beklagte der ehemalige Kandidat der identitären Partei Reconquête Eric Zemmour, dass marokkanisch-französische Fans, die vor Frankreich-Marokko gefragt werden, für wen sie sind, «einstimmig für Marokko» antworten, so behauptete er. Er fügte hinzu, er habe noch nie gehört, dass Franko-Italiener gesagt hätten, sie würden Italien unterstützen, wenn es gegen Frankreich spielt. Abdelkrim Branine berichtigt: «Das ist völlig falsch», und verweist auf die Fälle mehrerer französisch-italienischer Bekannter, die die «Squadra Azzurra» unterstützen.
Einige scheinen sich in einer Art islamisch-identitärer Hybris zu gefallen, die den extremen Gegnern in die Hände spielt. So wie dieser junge Mann, der von BFMTV befragt wurde:
« Ici, y'a qu'des africains et des musulmans, on est tous ensemble [...] nous on a un truc c'est Allah, c'est Allah il a tout fait ! »
— déscotomisateur (@descotomisateur) December 11, 2022
- Vous aimeriez affronter qui ?
« La France. Combattre la France. » #FRAMAR pic.twitter.com/2lRb47JCIy
«Ich werde Frankreich unterstützen», sagt Aziz Senni, ein Franko-Marokkaner, der in Val-Fourré, der grössten marrokanischen Siedlung Frankreichs in Mantes-la-Jolie, aufgewachsen ist. Er ist Autor des 2005 erschienenen Buches «Der soziale Aufzug ist defekt... Ich habe die Treppe genommen» (Archipel-Verlag), das bei seinem Erscheinen viel Beachtung fand.
«Es gibt auf beiden Seiten eine Minderheit von Fanatikern, die schädlich sind», sagt Aziz Senni. Der 40-Jährige freut sich auf die Begegnung zwischen Frankreich und Marokko, «zwischen seinen beiden Ländern». Er erklärt seine pro-französische Wahl in diesem Halbfinale.
Es ist nicht auszuschliessen, dass es am Mittwoch im Rahmen des Halbfinalspiels zu Zusammenstössen kommt. Aber die überwiegende Mehrheit der Franko-Marokkaner wünscht sich einen Moment der Brüderlichkeit. Die schönste Ehrung, die den Eltern zuteilwerden könnte.
Das müssten sich auch einige bei uns hinter die Ohren schreiben, welche ihr Land verlassen haben, um hier eine bessere, sichere Zukunft zu geniessen.