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«Einer schickte seinen abgetrennten Finger»: Fotograf zeigt Leid der WM-Arbeiter

Die meisten Gastarbeiter in Katar stammen aus Nepal und Indien.
Die meisten Gastarbeiter in Katar stammen aus Nepal und Indien.Bild: mohamed badarne

«Einer schickte seinen abgetrennten Finger»: Fotograf zeigt Leid der WM-Arbeiter in Katar

Mohamed Badarne ist ein Fotograf und Aktivist aus Palästina. Mit watson hat er über seine Erlebnisse in Katar gesprochen.
14.11.2022, 19:2714.11.2022, 19:27
Laura Czypull / watson.de
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«Und dann kommen sie am ersten Tag in Katar in einen Raum, in dem zwölf Menschen leben. Am nächsten Tag ist einer ihrer Kameraden bei der Arbeit gestorben und sie müssen in einem Bett schlafen, in dem sich an einem anderen Tag jemand umgebracht hat. Müssen sich auch noch um die Leiche kümmern.»

Mohamed Badarne ist ein Fotograf und Aktivist aus Palästina. Er war zwischen 2017 und 2022 mehrere Male in Katar, Indien und Nepal, um die dort lebenden Gastarbeiter:innen während ihrer Arbeit und in ihrer Heimat zu begleiten. Seine Fotos wurden in zahlreichen Städten ausgestellt.

Mit watson hat er über seine Erlebnisse in Katar gesprochen. Auf das Leid der Arbeiter:innen in Katar stiess Badarne allerdings nur durch Zufall. Er war 2017 wegen einer Ausstellung seiner Werke über Palästina in dem Emirat und bemerkte Menschen in Blaumännern. Seine Recherche begann.

20'000 der 2,3 Millionen Arbeitsmigranten in Katar arbeiten auf den WM-Baustellen.
20'000 der 2,3 Millionen Arbeitsmigranten in Katar arbeiten auf den WM-Baustellen.bild:imago images

Menschenrechtsorganisationen schlugen schon mehrfach Alarm. 15'000 Menschen nicht-katarischer Staatsangehörigkeit sollen laut Angaben von Amnesty International im Zeitraum zwischen 2010 und 2019 in Katar gestorben sein. Diese Schätzung variiert jedoch. Sie könnte zum einen zu hoch sein, weil nicht alle Todesfälle im Zusammenhang mit der WM stehen und zum anderen zu niedrig, weil oftmals auf den Baustellen nur Totenscheine zu Herzversagen oder «natürlicher Ursache» ausgestellt werden.

Nicht etwa bei Tod durch Übermüdung, Überarbeitung oder Mangelernährung, wie im Podcast «Ausverkauft» erklärt wird.

«Ich denke, ich kann jetzt nicht mehr nach Katar einreisen – das wäre zu gefährlich.»
Fotograf und Aktivist Mohamed Badarne

Badarne stellte Kontakt zu Familien der Todesopfer her

Badarne wollte auch mit den Familien der Gastarbeiter:innen sprechen. Er kontaktierte einige über die Arbeiter:innen selbst. Irgendwann flog er nach Nepal, beauftragte seinen Übersetzer damit, sich in Kathmandu in das Büro zu setzen, in dem Menschen sich melden können, die Angehörige verloren haben, und jeden Menschen, der ihm begegnete, zu fragen: «Kennen Sie jemanden, der in Katar gestorben ist?»

Mohamed Badarne war zwischen 2017 und 2022 zweimal in Katar.
Mohamed Badarne war zwischen 2017 und 2022 zweimal in Katar.Bild: mohamed badarne

Die Arbeiter:innen und ihre Familien vertrauten dem Fotografen nach nur wenigen Tagen: Sie gewährten ihm Zutritt zu ihren Unterkünften, zu ihren Häusern in ihrer Heimat, sprachen mit ihm über ihre Situation, «über ihre Löhne, ihr Essen, wann sie schlafen, was sie kaufen – alles.»

Dass diese Position Badarne in Gefahr bringen könnte, war ihm da bereits bewusst. «Ich denke, ich kann jetzt nicht mehr nach Katar einreisen – das wäre zu gefährlich», sagt er. Vielmehr zögerte er aber, weil er die Gastarbeiter:innen einer Gefahr aussetzte. Sie könnten dafür bestraft werden oder Schlimmeres. In Katar wurde die Todesstrafe noch nicht abgeschafft.

«Ich habe mittlerweile viele Freunde unter den Arbeitern in Katar. Einer schickte mir vor Kurzem ein Foto auf Facebook von seinem abgetrennten Finger mit den Worten: 'Schau mal, was mir passiert ist.' Da musste ich schon schlucken», erzählt Badarne.

Fotograf sieht Schuld beim «System FIFA»

Die Schuld an dem Leid der tausenden Gastarbeiter:innen in Katar sieht Badarne beim Weltfussballverband Fifa. «Katar ist nur ein Teil des Problems», sagt er, «das grössere Problem ist die Fifa. Das ganze System.» Es sei ein System, das Fussball zu einer Maschinerie macht, die Menschen tötet. Sobald eine Sportart, wie Fussball, anfange kommerziell zu werden und keinen Wert mehr auf Menschenrechte legt, werde es immer so weitergehen, betont Badarne.

Die Gastarbeiter leben in Katar auf engstem Raum.
Die Gastarbeiter leben in Katar auf engstem Raum.Bild: mohamed bedarne

Doch das Emirat ist keineswegs ein Newcomer im Fussballgeschäft. Mit der WM-Austragung will der Wüstenstaat jetzt aber so richtig aufsteigen.

Boykott ohne Aktivismus hat keinen Sinn

Trotzdem sei die WM-Vergabe an das Land Katar kein Fehler gewesen, sagt Mohamed Badarne. «Jedes Land hat das Recht, eine WM auszutragen – solange sie die Menschenrechte respektieren.» Vielmehr sollte auf das System geschaut werden, das die WM ausrichtet.

Der Weltverband Fifa müsste laut Badarne die Bedeutung von Fussball zurückbringen und nicht nur auf den Kommerz achten. «Die Fifa könnte beispielsweise sagen: Wenn ihr den Menschen nicht ihre Rechte zurückgebt, lassen wir euch die WM nicht ausrichten.»

«Ich finde nicht, dass die WM-Vergabe nach Katar ein Fehler war. Jedes Land hat das Recht, eine WM auszutragen – solange sie die Menschenrechte respektieren.»
Fotograf Mohamed Badarne

Zudem fordert er Menschen nicht dazu auf, die WM zu boykottieren. Grundsätzlich hätte Boykott keinen Sinn ohne Aktivismus. Lediglich anzukündigen, die Spiele nicht zu schauen, würde den Menschen in Katar auch nicht helfen.

Fotoausstellung soll Aufmerksamkeit schaffen

Mit den Ausstellungen seiner Fotos will Mohamed Badarne Aufmerksamkeit für die prekären Lebensumstände der Gastarbeiter:innen in Katar schaffen. Eines seiner Lieblingsbilder zeigt ein zehnjähriges Mädchen in pinkem Kleid vor einer blau-gelben Wand in einem leeren Raum. Badarne fragte sie in ihrer Heimat Nepal, ob er sie fotografieren dürfe, und sie zog sich sofort ihr schönstes Kleid an und posierte in dem kahlen Raum.

Tausende Menschen verloren in den vergangenen Jahren Angehörige. So auch das achtjährige Mädchen. Ihre Mutter starb in Katar.
Tausende Menschen verloren in den vergangenen Jahren Angehörige. So auch das achtjährige Mädchen. Ihre Mutter starb in Katar.Bild: Mohamed bedarne

Es war der Wunsch ihrer Eltern, dass ihre Tochter auf eine Privat-Schule gehen kann. Diesen Wunsch konnte Badarne durch seine Ausstellung und die Aufmerksamkeit auf ihren Fall erfüllen. Dies sei aber nur ein kleiner Schritt, sagt Badarne, keine Gesamtlösung. Er sagt:

«Ich will mit meinen Fotos nicht erreichen, dass Menschen Mitleid mit ihnen haben. Die Fotos sollen vor allem die Kraft transportieren, die die Arbeiter haben und ihnen dadurch eine Stimme geben, die sie wiederum nicht haben.»

Das bedeute für ihn aber auch in logischer Konsequenz: «Ich werde die Spiele nicht schauen. Aus Respekt vor den Opfern.»

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