Nach einer Finte legt sich Andrea Pirlo den Ball auf seinen rechten Fuss, um das Leder anschliessend mit viel Gefühl hinter die Abwehr zu chippen. Dort läuft Stephan Lichtsteiner perfekt ein, nimmt den Ball mit rechts an, schliesst mit Links ab. Juventus führt gegen Parma mit 1:0 und hat soeben das erste Tor im neuen Juventus Stadium erzielt.
Fast eine Dekade ist es her, als an diesem 11. September 2011 sowohl Lichtsteiner als auch Pirlo ihr Juve-Debüt geben. Es ist auch der Startschuss für die Juventus-Dominanz im italienischen Klubfussball – neun Mal in Serie wurden die «Bianconeri» seither Meister.
Vom damaligen Kader sind der Mannschaft bloss noch Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci erhalten geblieben. Während Stephan Lichtsteiner seinen Ruhestand geniesst und mit Diego Benaglio Padel-Tennis spielt, steht Andrea Pirlo wieder im Mittelpunkt des Geschehens.
Beim ehemaligen Mittelfeld-Strategen laufen einmal mehr die Fäden zusammen, diesmal als Trainer. Eigentlich wurde Pirlo im Sommer als Coach für die U23 verpflichtet. Es war seine erste Station als Trainer – langsam sollte aus dem Mastermind auf dem Feld auch eines an der Seitenlinie werden.
Doch als Juventus am 7. August 2020 trotz einem 2:1-Heimsieg (0:1 im Hinspiel) gegen Lyon das Champions-League-Finalturnier verpasst, zieht die Führungsetage die Reissleine und entlässt Maurizio Sarri.
Pirlo wird einen Tag später, nach bloss acht Tagen als Trainer der U23, überraschend zum Cheftrainer der ersten Mannschaft ernannt. Seine fehlende Erfahrung soll sein Charisma wettmachen, Andrea Pirlo soll das Gesicht des neuen Juventus werden.
Doch der «Mister» kann fast nur verlieren. Die 10. Meisterschaft in Folge ist Pflicht, in der Champions League warten die Tifosi sehnsüchtig auf den ersten Triumph seit 1996.
Der Start in die Saison verläuft für Juventus dann auch eher schlecht als recht. Von 14 Serie-A-Spielen gewinnt die «alte Dame» bloss die Hälfte. Unter anderem gibt es enttäuschende Unentschieden gegen Crotone, Hellas Verona oder Benevento. Kurz vor Weihnachten gab es gegen die kriselnde AC Fiorentina gar ein 0:3 und die erste Liga-Niederlage der Saison.
Und auch die Spielweise, Hauptkritik schon unter Maurizio Sarri, ist noch überhaupt nicht so, wie man sich das von einem kreativen Freigeist wie Andrea Pirlo erhofft hat. Das Pressing funktioniert nur bedingt, im Angriff fehlen oft die Ideen und regelmässig werden planlos Flanken in den Strafraum geschlagen. Die spielerisch mageren Auftritte hängen auch mit zwei Personalien zusammen, die unter Pirlo (noch) nicht funktionieren. Das Juwel Paulo Dybala, das endlich den Sprung zur absoluten Weltklasse hätte machen sollen, macht eher Rück- statt Fortschritte und Arthur, als Nachfolger für Spielgestalter Miralem Pjanic mit Barcelona getauscht, wirkt wie ein Fremdkörper.
Was zählt, ist am Ende aber sowieso nur die Tabelle. Und dort liegt Juventus bloss auf Rang 5, besonders brisant ist die Tatsache, dass die beiden Mailänder Klubs wieder erstarkt sind. Da ist einerseits Inter, trainiert von Antonio Conte, der den Grundstein für die erfolgreiche Juve-Ära mit den Meistertiteln in den Jahren 2012-2014 einleitete, und vor allem die AC Milan.
Die «Rossoneri» sind seit dem 8. März 2020 in der Serie A ohne Niederlage – das sind 27 Partien. In den letzten 35 Spielen hat Milan zudem immer mindestens ein Tor erzielt, in den letzten 17 Spielen sogar immer mindestens zwei.
2014/15 verschlief Juventus den Saisonstart unter Massimilliano Allegri ebenfalls. Nach 10 Spielen hatte man bloss 12 Punkte auf dem Konto, lag auf Rang 12 in der Tabelle. In der Folge reihte Juventus 15 Siege aneinander, gab bis zum Saisonende nur noch zwei Mal Punkte ab und holte schliesslich mit 9 Punkten Vorsprung die Meisterschaft.
Eine ähnliche Serie braucht Juve nun auch unter Andrea Pirlo. Verliert Juventus heute, wird es ganz schwierig, den Anschluss zu halten – selbst ein Unentschieden wäre wenig hilfreich. Andrea Pirlo droht bereits bei seiner ersten Station als Trainer grandios zu scheitern – und seinen Ruf nachhaltig zu beschädigen, wenn er es nicht schafft, Juventus zum Scudetto zu führen. Dass bei Juventus mit Alex Sandro und Juan Cuadrado die beiden Stamm-Aussenverteidiger ausfallen, wird die Aufgabe nicht leichter machen.
Doch während bei Milan Zlatan Ibrahimovic, der Mann, der mit seiner Aura und seinem Selbstvertrauen den Erfolg nach Mailand zurückbrachte, weiter ausfällt, ist Juves Posterboy in absoluter Topform. Cristiano Ronaldo führt die Torschützenliste der Serie A mit 14 Toren aus 11 Spielen bereits wieder an. Wie wichtig der Portugiese für Juventus ist, zeigt die Tatsache, dass Juventus in den drei Spielen ohne ihn prompt die drei enttäuschenden 1:1 gegen Crotone, Hellas Verona und Benevento erspielte.
Eine schwierige Aufgabe hatte Juventus bereits Anfang Dezember vor sich. Damals traf man in der Champions League auswärts auf den FC Barcelona und brauchte einen Sieg mit mindestens drei erzielten Toren und zwei Toren Differenz, um sich den Gruppensieg zu sichern. Juventus lieferte ab und gewann die Partie mit 3:0. Den ersten Charaktertest hat Juventus also bestanden.
Doch damals war der Gegner ein verunsicherter FC Barcelona. Heute wartet die AC Milan, die nur so vor Selbstvertrauen strotzt. Und so steht Andrea Pirlo ausgerechnet gegen den Verein, den er über Jahre mitprägte (2001 bis 2011), vor einem Schicksalsspiel.
Milan’s probable lineup vs. Juventus according to Sky:
— Brigate Rossoneri (MBRI) 🔴⚫ (@Zanoe_Maldini) January 6, 2021
Donnarumma; Dalot, Kjaer, Romagnoli Theo; Calabria, Kessie; Castillejo, Calhanoglu, Hauge; Leao#Milanday #SempreMilan
Viel einfacher wird es für Juventus auch in naher Zukunft nicht. Am Sonntag kommt die US Sassuolo (Rang 6), eine Woche später muss Juventus wieder ins San Siro – dann wartet mit Inter Mailand der nächste Titelkandidat.