Ruhig ist es. Keiner spricht ein Wort. Es braucht auch keine Worte. Die Rückfahrt aus Bern fühlt sich am 1. Juni 1998 endlos lange an. Züge voller niedergeschlagener Menschen rattern an diesem Pfingstmontag ostwärts. Fassungslos träumen sie der verpassten Chance nach, endlich auch einmal einen Pokal gewinnen zu können.
Welch Kontrast zum Hinweg. Die Euphorie ist grenzenlos. Grün und weiss, wo man auch hinschaut. Riesige Vorfreude. Endlich ist der FC St.Gallen auch einmal dabei, wenn es um etwas geht. Und nicht bloss Beiwerk, wenn in der Finalrunde die besten Teams des Landes den Meister unter sich ausmachen. Nichts gab es zu feiern, seit uns Ivan Zamorano 1989 zum Wintermeister schoss. Ein wertloser Titel, der durch das Abrutschen auf Rang 5 in der Finalrunde noch wertloser wurde.
Okay, etwas gab es nebst dem Wiederaufstieg 1994 zu feiern. Wenige Monate vor dem Cupfinal wurde St.Gallen Hallenmeister. Was anderen Klubs nicht der Rede wert war, wurde in der Ostschweiz mit gewissem Stolz vorgetragen. «Wa mer hät, dä hät mer.»
Aber klar, so ein Cupsieg, das wäre nochmals eine ganz andere Nummer. Bis wir Fans im Wankdorf ankommen, glauben wir noch, dass es nur St.Galler in Bern hat. Erst im Stadion bemerken wir, dass auch Lausanner gekommen sind – früher, weil ihre U20-Mannschaft im Nachwuchs-Cupfinal dabei ist, der vor dem Hauptmatch ausgetragen wird.
Es sieht nicht aus, als hätte sich der Ausflug für die Waadtländer gelohnt. Ihre Junioren unterliegen dem FC Luzern 1:3 und im Final der «Grossen» führt St.Gallen zur Pause mit 1:0. Edwin Vurens, der schlaksige Holländer mit der feinen Technik, hat einen Freistoss in den Winkel des Lausanner Tors geschlenzt. Der schnelle Flügel Sascha Müller, wie stets mit zwei Nummern zu grossem Trikot, war brüsk gestoppt worden.
Und es kommt für den FCSG noch besser. Drei Minuten nach der Pause doppelt Vurens nach. Erich Hänzi wird unter Druck gesetzt, er verliert den Ball, Georgi Slavtschev passt ihn rüber und SRF-Reporter Dani Wyler schwärmt vom «eiskalten Holländer». Einer meiner Kollegen verpasst das Tor, weil er beim Getränke-Nachschub aufgehalten wurde. Auf den nicht gesehenen Treffer angesprochen, winkt er nonchalant ab: macht doch nichts.
Und es stimmt ja. St.Gallen hat zwei Tore Vorsprung und es ist ein heisser Nachmittag, was Lausanne die Aufgabe erschwert, ins Spiel zurück zu kommen. Zumal nun, da eine knappe Stunde gespielt ist, der Matchball auf dem Penaltypunkt bereit liegt. Patrick Bühlmann ist gefoult worden, Vurens schreitet vor einer Wand aus grün-weissen Fans zum Punkt. Er läuft an, er schiesst, sein Hattrick, der Cupsieg, was für ein Tag!
Der Penalty verfolgt St.Galler Fans bis heute. Denn Vurens läuft an, schiesst – und setzt den Ball neben das Tor, das doch mit 7,32 m weiss Gott breit genug wäre, um sich mit dem Versenken eines Balles ein eigenes Denkmal zu setzen. «Ich hätte mein Haus gewettet, dass er trifft», betont Trainer Roger Hegi nach dem Spiel.
Mit dem Fehlschuss nimmt eine spektakuläre Wende ihren Anfang. Anstatt dass es 3:0 heisst und der Cupfinal entschieden ist, steht es nur 42 Sekunden (!) später nach einem Treffer des Schweden Stefan Rehn nur noch 2:1 für St.Gallen.
Zehn Jahre nach dem historischen Spiel arbeite ich beim Radio und wähle eine Telefonnummer in Rotterdam. Mit Edwin Vurens blicke ich zurück auf den Cupfinal – und bin baff. Denn er hadert mitnichten mit dem Schicksal, sondern spricht von einem dennoch tollen Tag, den er in guter Erinnerung habe. Die Fans seien stolz auf die Mannschaft gewesen, so solle das doch sein.
Auf dem Wankdorf-Rasen brechen die letzten Minuten an. Immer noch hat der FCSG eine Hand am Kübel. Bis Léonard Thurre in der 89. Minute tatsächlich noch das 2:2 erzielt und eine Verlängerung erzwingt. In dieser sind die St.Galler näher an einem dritten Treffer, selbst im neutralen «Bund» ist festgehalten, dass «die Waadtländer eine gehörige Portion Glück brauchten.»
Erst etwa nochmals zehn Jahre nach dem Telefongespräch mit Edwin Vurens wird mir bewusst, dass er wirklich recht hat. Siege sind nicht alles im Leben, gute Erinnerungen sind es, die das Leben wertvoll machen. Und der Cupfinal 1998 ist trotz allem ein Spiel – ein Ereignis –, das ich nie vergessen werde. Vielleicht ist das aber auch nur die Erkenntnis eines Verlierers, ich weiss es nicht. Denn so ein Cupsieg wäre schon verdammt schön.
In Bern kommt es, wie es kommen muss. Die St.Galler wirken, als hätten sie die Hosen voll, Trainer Hegi hat nach der torlosen Verlängerung Mühe, fünf Penaltyschützen zu finden. Dass Vurens verzichtet, versteht jeder (Vurens sagte dem SRF dieser Tage, er sei als fünfter Schütze vorgesehen gewesen, doch da spielt ihm die Erinnerung einen Streich). Die jeweils ersten drei Spieler treffen, dann pariert Lausannes Goalie Martin Brunner, ausgerüstet mit dem Sieger-Gen der jahrelangen Nummer 1 beim ruhmreichen Rekordmeister GC, die Versuche von Marco Zwyssig und Patrick Bühlmann.
Aus der Traum. Lausanne ist Cupsieger, das St.Galler Warten dauert nach dem einzigen Sieg 1969 weiter an. Für die Welt mag die Mondlandung bedeutender gewesen. Fragt man einen St.Gallen-Fan nach dem bedeutendsten Ereignis jenes Jahres, ist das nicht ganz so klar.
Wäre der Klub in Vurens' Heimat Holland zuhause und nicht in der Ostschweiz, er wäre vielleicht wie andere dort nach einem griechischen Helden benannt worden. Nicht nach Ajax und auch nicht nach Heracles, sondern nach der tragischen Figur Sisyphus. Der rollte einen schweren Stein so lange einen Berg hinauf, bis er einen Penalty verschoss und so das 3:0 vergab, weshalb der Stein wieder ins Tal rollte und er einen neuen Anlauf nehmen musste.
Was ein riesiges Fest mit rund 15'000 angereisten Fans hätte werden können, wird am Pfingstmontag 1998 zu einer Trauerveranstaltung. Bis heute ist mir kein Spiel präsenter als der legendäre Cupfinal. Er ist die «Mutter aller Niederlagen», so typisch für diesen Klub.
Aus heutiger Sicht ist es schade, hatte man damals noch nicht stets eine Kamera im Hosensack. Wir hätten uns mindestens am Bahnhof bei der Abfahrt fotografieren lassen sollen. Wie Goldgräber, die sich in ein Abenteuer stürzen. Haben wir aber nicht.
Doch all das Pech, all das Unvermögen von jenem Nachmittag wird zwei Jahre darauf mehr als kompensiert. Der kleine FC St.Gallen, eine vom Rest der Liga belächelte Mannschaft, pflügt 1999/2000 wie im Rausch durch die Saison und wird so sensationell wie überlegen erster Schweizer Meister des neuen Jahrtausends. Am 7. Juni 2000 erhält der FCSG im Espenmoos doch noch einen glänzenden Pokal – nachdem er in genau zwei Jahren von der Hölle in den Himmel gelangte.
Es ist bis heute der letzte Titelgewinn des ältesten Fussballklubs des Landes. Falls es heute im Cupfinal gegen den FC Luzern wieder klappen sollte, werde ich bestimmt glücklich sein, weil ich den Wert eines Titelgewinns als leidgeprüfter St.Gallen-Fan gut einschätzen kann. Aber auch traurig, weil es wegen Corona leider niemals so sein wird wie beim unvergessenen Cupfinal-Fest 1998.
Bei den letzten 3 Cupfinals war es jedenfalls keine Hilfe.😄
Hopp Lozärn🔵⚪💪
Schon, doch die Misserfolge sind das Salz in der Suppe des Erfolges.
Als Beispiel: Ich bin jetzt 26 und seit 2006 YB-Fan. Da kam einiges an Salz zusammen. Trotzdem jedes Spiel geschaut, dran geglaubt (mal mehr, mal weniger) und gehofft. Bittere Tränen bei den Cup- und Finalissimaniederlagen.
Dafür war meine Freude im 2018 tiefer und die Befriedigung wohl grösser als die deren Fans, welche YB weniger lange unterstützt haben. Heisst nicht, dass ich der bessere Fan bin, zeigt aber den Nutzen von Salz. Hopp FCSG, Allez FCL!