Es ist Ende November des vergangenen Jahres, als die Spieler von Qarabag FK einen Ausflug machen. Was zunächst so ganz und gar nicht spektakulär erscheint, birgt hohe Brisanz. Denn der Ausflug ist politisch sowie geschichtlich bedeutsam. Und: Er ist emotional. Denn die Spieler kehren dorthin zurück, woher sie stammen: nach Agdam.
In eine Geisterstadt, die wenige Wochen vor diesem Novemberausflug noch Kriegsgebiet war. Und die die Narben dieses Krieges noch deutlich trägt. Der Ausflug zeigt: In der Geschichte Qarabags geht es nur selten um Sport. Es geht vielmehr um Politik, einen bewaffneten Konflikt, in dem der Trainer stirbt, um Vertreibung. Darum, dass Sport und Politik nicht zu trennen sind.
Die Geschichte beginnt 1951. Dann wird in Agdam das Imarat-Stadion gebaut, ein paar Jahre später entsteht Qarabag, damals noch unter einem anderen Namen. In den 1990er-Jahren bricht der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach aus. Eine umkämpfte Region, deren Territorium beide Länder beanspruchen und in der geschichtlich immer wieder Konflikte aufflackerten.
Die ethnisch-armenische Mehrheit in Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, kämpft um Unabhängigkeit. Doch damit begnügt sie sich nicht. Mit Agdam erobert sie 1993 eine Stadt, die gar nicht in Bergkarabach liegt, sondern ausserhalb. Und die sich fortan in eine Geisterstadt verwandelt, aus der knapp 30'000 Menschen fliehen. «Agdam wurde zu einer Pufferzone zwischen den beiden Fronten», sagt Alexander Balistreri, der als Assistent am Seminar für Nahoststudien der Universität Basel, unter anderem zum Kaukasus, forscht. 100'000 Minen soll es in und um die Stadt herum gegeben haben.
Die Eroberung Agdams ist auch das Ende von Qarabag am Geburtsort, der Verein disloziert nach Baku. Einer flüchtet nicht: Allahverdi Bagirov. Er, der bis 1991 noch Trainer Qarabags ist, stirbt ein Jahr später im Krieg. Seine aserbaidschanische Seite kann nicht verhindern, dass Agdam ab 1993 von der armenischen Armee besetzt wird. Bis im vergangenen Jahr.
Dann bricht der Bergkarabachkonflikt erneut aus. Doch dieses Mal sind es die Armenier, die grosse Gebiete abtreten müssen. Seit November ist auch Agdam unter der Kontrolle der aserbaidschanischen Regierung. «Sie ist aber noch immer verwahrlost. Grund dafür sind auch die zahlreichen Minen», sagt Balistreri. Doch die Räumungsaktionen sind im Gange. In der vergangenen Woche vermelden die Behörden, dass die Stadt von Minen geräumt sei. Auch Strassen werden bereits gebaut.
Die jüngsten Entwicklungen haben bei Qarabag die Hoffnung geweckt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Deshalb reist das Team Ende November nach Agdam, macht Fotos von der Stadt, spielt gar in den Ruinen des ehemaligen Imarat-Stadions Fussball. Das alles inszeniert es medienwirksam in einem Video. Noch trägt Qarabag seine Pflichtspiele in Baku in drei verschiedenen Stadien aus, national in der Azersun-Arena, europäisch mal im Tofiq-Bahramov-Stadion und – wie heute gegen den FCB – im Olympiastadion. Doch bereits hängen Plakate dort, auf denen steht: «Wir kehren zurück.» «Für die Bevölkerung Aserbaidschans wäre es ein grosses Zeichen für ihren Sieg im jüngsten Krieg, wenn Qarabag wieder in Agdam spielen könnte», sagt Balistreri.
Qarabag ist nicht nur Politik, sondern steht auch für sportlichen Erfolg. Sieben Mal en suite wurde der Klub zwischen 2014 und 2020 Meister und ist seit sieben Jahren Dauergast in einem europäischen Wettbewerb. 2017 spielt er gar in der Königsklasse. Es sind Erfolge, die mit politischen Zielen verbunden werden. «Wenn die Mannschaft im Ausland spielt, wird gesagt: Sie kommt eigentlich aus Agdam, muss aber aufgrund des Konflikts in Baku spielen. Der Verein ist und war ein gutes Mittel, um die aserbaidschanische Botschaft in die Welt hinauszutragen», sagt Balistreri. Kein anderer Klub ist in Aserbaidschan so beliebt, auch wegen des sportlichen Erfolgs. Aber auch, weil er in der Bevölkerung Nationalgefühle weckt.
Im November des vergangenen Jahres reist Qarabag nicht nur erstmals wieder nach Agdam. Auch die Uefa muss sich mit dem Konflikt befassen. Qarabags damaliger Pressechef Nurlan Ibrahimov hatte zur Tötung von Armeniern aufgerufen. Als Folge wird er von der Uefa für immer von allen «fussballerischen Aktivitäten ausgeschlossen». Obendrein muss der Verein eine Geldstrafe von 100'000 Euro bezahlen.
Wenn der FC Basel heute auf Qarabag trifft, wird er von dieser politischen Geschichte nicht viel mitbekommen. Vielmehr erwartet ihn eine Mannschaft, die zwar unbekannt, aber unangenehm und international erfahren ist. Zudem hat Qarabag in wettbewerbsübergreifend neun Spielen in dieser Saison noch nicht verloren. Doch der grösste Sieg wäre nicht ein sportlicher, auch nicht einer gegen den FCB. Den hätte der Verein erst errungen, wenn sie wieder in ihrem Heimatstadion spielen könnten. In Agdam, der Geisterstadt, der wieder Leben eingehaucht werden soll.