Es ist ein historischer Fernsehmoment im Oktober 2019 im ZDF. An der legendären Torwand der Sendung «Das aktuelle Sportstudio» hat Inka Grings schon fünfmal getroffen: dreimal unten, zweimal oben.
Dann nimmt sie Anlauf für den sechsten Versuch. Niemandem zuvor gelang es, alle zu treffen. Grings läuft an, schiesst – vorbei. «Ich war zu nervös, kam mit dem Druck nicht klar», meinte sie danach ins Mikrofon.
Mit ihrem legendären TV-Auftritt trägt sich Grings als erste Frau in die Liste von nur neun Namen ein, die an der Torwand fünf von sechs Schüssen versenkten. Unter anderem stehen auf dieser Liste Namen wie Rudi Völler, Günter Netzer oder Rolf Fringer. Andere Fussballlegenden wie Pelé (1 Treffer), Franz Beckenbauer (in vier Auftritten nie mehr als 4 Treffer) oder Gerd Müller (3 Treffer) kamen nicht an diese Marke heran.
Als Grings in die Sendung eingeladen wird, hat sie Fuss gefasst im Männerfussball. Als erste Frau leitet sie mit dem Regionalligisten SV Straelen eine Männermannschaft der obersten vier deutschen Ligen. Mit ihrem Team gewinnt sie in 30 Partien 22-mal, steigt souverän auf. Zuvor hat sie mit dem ehemaligen Bayern-Trainer Julian Nagelsmann die UEFA-Pro-Lizenz abgeschlossen. Statt Angebote von Topklubs zu erhalten, bleiben diese bei Grings im Männerfussball aus, nachdem sie den Vertrag bei Straelen auf eigenen Wunsch gekündigt hat.
Stattdessen taucht sie später im Frauenfussball wieder auf als Trainerin des FC Zürich, in dem sie einst selber gespielt hat. Und weil die Angebote aus dem Männerfussball weiterhin ausbleiben, wird Grings Anfang Jahr Schweizer Nationaltrainerin.
Zu jenem Zeitpunkt war die Qualifikation für die WM schon unter ihrem Vorgänger Nils Nielsen erreicht. Grings hingegen missglückt der Start, in sechs Testspielen hat die Schweiz 2023 noch nie gewonnen. Nun ist sie mit ihrem Team in Neuseeland angekommen, am Freitag treffen die Schweizerinnen in ihrem ersten WM-Spiel auf die Philippinen. Akklimatisation ist angesagt, aus dem europäischen Sommer geht es in den neuseeländischen Winter. Als die Schweizer Delegation in Dunedin nach einer Reise von 30 Stunden landen, zeigt das Thermometer 4 Grad an.
Zwei Wochen zuvor ist es in Yverdon deutlich wärmer. Grings sitzt einer Journalistenschar gegenüber. Ihre Vorfreude ist spürbar, als sie sagt: «Eine WM ist sehr faszinierend: Volle Stadien, Leute, die kommen, um dich spielen zu sehen, und eine weltweite Aufmerksamkeit.» Gleich zu Beginn des Gesprächs wird sie nach ihren Zielen gefragt. Zunächst meint sie: «So weit wie möglich zu kommen.» Später lässt sie sich entlocken, dass mindestens der zweite Rang in der Gruppe und das damit verbundene Erreichen des Achtelfinals das Ziel sein müssen. Gruppengegner sind die Philippinen, Norwegen und Neuseeland. Vielsagend meint Grings: «Eine Gruppe zum Träumen.»
Mit Formulierungen hält sich die 44-jährige Deutsche zurück, sie hat von der Männer-Nati gelernt. «Granit Xhaka hatte den Mut, klare Worte zu wählen und Ziele zu formulieren. Für mich war es lehrreich, zu sehen, wie heftig die Reaktionen darauf ausgefallen sind.» Grings spricht an, dass Xhaka vom Titel sprach, die Schweiz an der letzten WM in Katar nach einem 1:6 im Achtelfinal gegen Portugal deutlich gescheitert ist.
Auch wenn Grings keine klare Ziele ausgibt, hat sie grosse Ansprüche. Die Wahl für die ehemalige Trainerin des FC Zürich nach dem Rücktritt von Nils Nielsen auf Ende Jahr 2022 war zwar eine logische, obschon sie in ihrer Art völlig anders ist als ihr Vorgänger. Nielsen galt als lockerer Typ, war stets für ein Spässchen zu haben und legte keinen grossen Wert auf Autorität. Grings gibt klare Ansagen und ist der unbestrittene Boss.
Als Spielerin galt Grings als Rebellin. In Duisburg legte sie sich mit ihrem Bundesligatrainer Dietmar Herhaus an und sagte öffentlich: «Er oder ich.» Später kritisierte sie auch die Entscheidungen der damaligen deutschen Nationaltrainerin Silvia Neid, die die Problemspielerin trotz beeindruckender Torquote nicht mehr aufbot. So wurde Deutschland zweimal Weltmeister, Grings jedoch nicht.
Auch das Liebesleben von Inka Grings wurde während ihrer Spielerinnenkarriere in der Öffentlichkeit ausgetragen. 2005 war sie zuerst mit ihrer Mitspielerin Linda Bresonik liiert, bandelte danach mit dem damaligen Bundesligatrainer Holger Fach an. Dieser verliess sie später wieder – ausgerechnet wegen einer Beziehung mit Bresonik. Der Boulevard titelte vom «bizarrsten Liebesdreieck des deutschen Fussballs».
Schon vor den Olympischen Sommerspielen 2000 war Grings in einen Liebesknatsch verwickelt. Martina Voss-Tecklenburg, die ehemalige Schweizer und aktuelle deutsche Nationaltrainerin, war mit Grings liiert. Vor einem Länderspiel soll Voss erfahren haben, dass Grings eine Affäre habe. Daraufhin suchte Voss das Gespräch mit der Nationaltrainerin Tina Theune-Meyer, die zunächst Verständnis vorgab. Später warf sie Voss aus dem Kader.
Die Diskussionen von damals sind inzwischen vergessen, Grings und Voss-Tecklenburg vertragen sich wieder. Voss-Tecklenburg war einige Jahre später Trainerin von Grings bei Duisburg. Später stellte ihr heutiger Ehemann Hermann Tecklenburg in der Funktion als Klubpräsident von Straelen Grings als Trainerin ein. Aus Grings ist zum Ende ihrer Karriere aus einer Rebellin eine pflegeleichte Spielerin geworden, sagte sie einmal gegenüber der «Welt». Sie habe gelernt, «mal auf die Zunge zu beissen».
Auch als Nationaltrainerin pflegt sie einen umgänglichen Umgang, doch sie wählt durchaus auch klare Worte und lässt Taten folgen. So lässt sie statt wie früher meistens nur noch einmal am Tag gleich zweimal auf dem Platz trainieren. Die Spielerinnen sollen fitter werden. «Wir müssen im Training an unsere Grenze gehen», pflegt sie zu sagen. Vor einem Jahr, als die Schweizerinnen an der EM in England nach den Gruppenspielen ausschied, hat sie die Schwächen im Fitnessstand ausgemacht. «Es war auffällig, dass ab der 60. Minute die Luft raus war. Statistiken haben das auch belegt. Diese Erkenntnis habe ich den Spielerinnen auch direkt auf das Brot geschmiert.»
Und so wurde in der WM-Vorbereitung vermehrt an der Physis gearbeitet. Nicht ohne Stolz erklärt Grings den anwesenden Medienschaffenden, dass die Spielerinnen deutlich bessere Konditionswerte haben als noch vor der letzten Endrunde. Auf die Frage, ob sie trainieren lasse wie der als «Quälix» bekannte Felix Magath, sagt sie lachend: «Ich bin doch eigentlich ziemlich nett. Die Spielerinnen durften bei mir immerhin 45 Minuten mit dem Ball spielen, ehe sie laufen mussten.»
Inka Grings war einst eine absolute Topstürmerin. Mit 314 Treffern ist sie noch immer Rekordtorschützin in der deutschen Bundesliga, zweimal wurde sie Torschützenkönigin an Europameisterschaften. Dass es nun im Schweizer Nationalteam ausgerechnet beim Toreschiessen hapert, gibt ihr zu denken.
Doch sie meint: «Ich kann den Spielerinnen keinen Kuchen backen mit einem speziellen Rezept, wie man Tore schiesst. Letztlich geht es nur übers Training. Es geht darum, immer wieder aufs Tor zu schiessen.» Bei einigen Natispielerinnen sei der Torinstinkt durchaus vorhanden, sagt Grings. «Steht Alisha Lehmann vor dem Tor, hat sie eine fast hundertprozentige Trefferquote. Auch Seraina Piubel oder Fabienne Humm haben diesen Instinkt. Nun geht es darum, diese Spielerinnen zu forcieren und in Position zu bringen.»
Mit der WM hat Grings noch eine Rechnung offen. Zweimal wurde sie Europameisterin, doch der Weltmeistertitel blieb ihr verwehrt. 1999 scheiterte Deutschland mit der jungen Grings im Viertelfinal. 2003 und 2007 fehlte sie bei den Titeln Deutschlands. Und 2011 bei der Heim-WM reichte es für die deutschen Favoritinnen nur in den Viertelfinal.
Nun möchte Inka Grings endlich eine WM erleben, die nach ihrem Wunsch verläuft. Mit einem erfolgreichen Abschneiden könnte sie im Schweizer Frauenfussball einiges bewegen – und sich interessant machen für einen Job im Männerfussball.