Eigentlich hätte Gianni Infantino gestern vor dem Europarat in Strassburg nur eine simple Rede in der Debatte zum Kommissionsbericht «Fussballverwaltung: Wirtschaft und Werte» halten müssen. Doch der FIFA-Präsident nutzte den Auftritt, um einmal mehr für das wichtigste und gleichzeitig umstrittenste Projekt seiner Agenda – die WM im Zweijahres-Rhythmus – Werbung zu machen, führte sich damit allerdings selbst aufs Glatteis.
Mit abstrusen Aussagen, wie man durch die WM afrikanische Migranten vor dem «Tod im Mittelmeer» bewahren kann, und der Verharmlosung der Todeszahlen auf den WM-Baustellen von Katar sorgte Infantino weltweit für grosses Kopfschütteln und Empörung.
» Hier gibt's die komplette Infantino-Rede (ab 19:25).
Ronan Evain, der CEO der europäischen Fussball-Supporter-Gemeinschaft, twitterte beispielsweise: «Wie tief kann Infantino sinken? Den Tod im Mittelmeer dafür zu instrumentalisieren, seine grössenwahnsinnigen Pläne zu verkaufen? Dafür gibts keine Worte. Widerlich, er ist nicht der Mann, der den Weltfussball leiten sollte.»
Tony Burnett, Chef der Anti-Rassismus-Organisation «Kick It Out», erklärte in einem Statment: «Die FIFA ist eine Multimilliarden-Profit machende Organisation. Die haben die Gelder, um in Möglichkeiten für benachteiligte Menschen auf der ganzen Welt zu investieren. Deshalb ist es komplett inakzeptabel, zu suggerieren, dass eine WM alle zwei Jahre, die vornehmlich dafür geplant, um noch mehr Profit zu generieren, eine Möglichkeit für Migranten sei, aus kriegsgebeutelten Ländern zu fliehen, um ein besseres Leben zu finden.»
Bei «n-tv» erschien ein Kommentar mit dem Titel «Dreist, verlogen – Infantino: Der gefährlichste Mann des Weltfussballs». Seine Aussagen in Strassburg seien nicht nur «beleidigend und irritierend, sondern auch brandgefährlich», heisst es da. Weil er mit seinen Katar-Aussagen das System im WM-Austragungsland einmal mehr legitimiere und er in der Flüchtlingsthematik seinen «Weisser-Retter-Komplex» enttarne.
Dreist, verlogen - Infantino: Der gefährlichste Mann des Weltfußballs https://t.co/IgnBfM826F
— Sport bei ntv.de ⚽ (@ntvde_sport) January 26, 2022
«Der grösste Schurke ist immer der Nächste», heisst es im «Tagesspiegel». Dort wird Infantino mit Sepp Blatter vergleichen: Der aktuelle FIFA-Boss verhalte sich dabei zu seinem Vorgänger wie «der Räuber Hotzenplotz zum Chef eines mittelamerikanischen Drogenkartells». Seine neusten Aussagen vor dem Europarat hätten gezeigt, dass Infantino in einem Mass «gerissen, durchtrieben, skrupellos ist, wie es Blatter nie war».
Vielerorts wird nun Infantinos Rücktritt gefordert. «Der mächtigste Mann des Fussballs hat zum wiederholten Mal eine Grenze überschritten – und sich dieses Mal gänzlich für die weitere Ausübung seines Amtes disqualifiziert. Würden wir in einer anständigen Welt leben, müsste Infantino zurücktreten», heisst es beispielsweise bei «RP online». Mit seinen Aussagen verharmlose der FIFA-Präsident nicht nur die vielzähligen Fluchtgründe und das Leiden der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. «Nein, er zieht sie ins Lächerliche.» Die Ignoranz vor den wahren Problemen und die Überhöhung des Fussballs liessen einen nur noch fassungslos zurück.
Normalerweise tropft Kritik an Infantino fasst schon routinemässig ab. Der grosse Aufruhr um seine Aussagen vor dem Europrat liess aber auch den FIFA-Präsidenten nicht kalt: Noch gestern Abend krebste der 51-jährige Walliser über die offizielle Medienseite des Weltverbands zurück. «Bestimmte Bemerkungen» scheinen «falsch interpretiert» und «aus dem Zusammenhang gerissen» worden zu sein, erklärte Infnatino via Twitter.
Er wolle «klarstellen, dass die allgemeinere Botschaft in meiner Rede war, dass jeder in einer Entscheidungsposition in der Verantwortung steht, zur Verbesserung der Situation der Menschen auf der ganzen Welt beizutragen». Es sei «ein allgemeiner Kommentar» gewesen, der nicht direkt mit den Plänen einer Verkürzung des WM-Rhythmus auf zwei Jahre in Verbindung gestanden habe.
FIFA President Gianni Infantino: “Given that certain remarks made by me before the Council of Europe earlier today appear to have been misinterpreted and taken out of context,
— FIFA Media (@fifamedia) January 26, 2022
I wish to clarify that, in my speech, my more general message was that everyone in a decision-making position has a responsibility to help improve the situation of people around the world.
— FIFA Media (@fifamedia) January 26, 2022
If there are more opportunities available, including in Africa, but certainly not limited to that continent, this should allow people to take these opportunities in their own countries.
— FIFA Media (@fifamedia) January 26, 2022
This was a general comment, which was not directly related to the possibility of playing a FIFA World Cup every two years."
— FIFA Media (@fifamedia) January 26, 2022
(pre)