Er hat in europäischen Top-Ligen gespielt und diverse Trophäen gewonnen: Gökhan Inler, 36-jährig, seit bald fünf Jahren in der Türkei engagiert. Der Ex-Captain der Nati analysiert die türkische Auswahl, die am Sonntag auf die Schweiz trifft.
Auch wenn die Türken nach zwei EM-Niederlagen im Spiel gegen die Schweiz nur noch theoretische Chancen auf ein Weiterkommen haben: In der türkischen Fussballszene ist Dynamik spürbar, sagt Inler. Auf Meisterschaftsebene boten die Giganten Besiktas, Galatasaray und Fenerbahce bis zur letzten Sekunde vorzügliche Unterhaltung. «Ich habe in diesen Partien viel Euphorie, Physis und sehr guten Sport gesehen», sagt Gökhan Inler zur aufwühlenden Titelentscheidung.
Seit 2016 ist der Mittelfeldspieler im Land seiner Eltern engagiert und über die lokalen Verhältnisse bestens orientiert; zunächst beim neuen Champion Besiktas, nach dem Titelgewinn mit Basaksehir in der diesjährigen Kampagne als Captain des Süper-Lig-Aufsteigers Adana Demirspor. Die Entwicklung in Türkei verfolgt er schon viel länger; als 20-Jähriger, unmittelbar vor seinem Profi-Debüt in Aarau, sondierte er in Istanbul den Markt.
Mit ihrer zeitweiligen Geldverschwendung sind die Spitzenklubs aus den Metropolen schlecht gefahren. Die sündhaft teuren und saturierten Alt-Stars sind mehrheitlich Geschichte. Im Hintergrund wird sogar darüber debattiert, das Kontingent für Ausländer einzuschränken. «Spieler, die am Ende ihrer Karriere nur des Geldes wegen in die Süper Lig wechseln, gibt es immer weniger», hat Inler festgestellt. Die jüngeren Entscheidungsträger wollen sich keine ruinöse Klubstrategie mehr leisten und setzen auf eigene Ressourcen.
Zur Fokussierung auf die eigenen Grundwerte passt auch die Situation im Trainerbusiness. 18 von 21 Vereinen haben einen Einheimischen auf der Payroll. Auch die Fortschritte in der Ausbildung sind unübersehbar. In Izmir beispielsweise betreibt der aufstrebende Zweitligist Altinordu Futbol Kulübü eine erstklassige Akademie. Inler hat das Izmir-Modell vor Ort unter die Lupe genommen: «Dort finden die Beteiligten traumhafte Verhältnisse vor. Sie arbeiten mit modernsten Hilfsmitteln, schlafen in perfekten Unterkünften, lernen Fremdsprachen. Ich habe mir diese Anlage zeigen lassen und war begeistert.»
Vor seinem Wechsel zum SC Freiburg gehörte auch Caglar Söyüncü zum Programm Altinordus. Inzwischen ist der Verteidiger des englischen Cupsiegers Leicester der am höchst dotierte Nationalspieler; Experten kalkulieren in seinem Fall mit gegen 40 Millionen Euro Marktwert.
Die Zuversicht vor der EM war in der Türkei beträchtlich. Nach einer eher unauffälligen Dekade wollte man auf der grossen Bühne wieder eine zentrale Rolle spielen. Das Nationalteam hat einen Reformationsprozess hinter sich, politische Unebenheiten sind derzeit kein Thema mehr. Den personellen Umbau hat Trainer Senol Günes orchestriert. Der 69-Jährige besitzt am Bosporus eine nahezu unvergleichliche Aura. Inler sagt über den Trainer:
Unter ihm gewann Inler 2017 mit Besiktas die Meisterschaft. «Er entspricht nicht dem allgemeinen Trend, auf immer jüngere Coaches zu setzen, sondern vertritt die ältere Generation.» Der ausgebildete Lehrer kanalisiert sein Temperament im Unterschied zum ehemaligen «Imperator» Fatih Terim gut, handelt gleichwohl konsequent. «Er spricht zwar ruhig, setzt sich aber durch.»
Günes hat schon einmal Sportgeschichte geschrieben. 2002 führte er die Nationalmannschaft bei der erst zweiten WM-Teilnahme in die Halbfinals. In der aktuellen Equipe setzt Günes rund zur Hälfte auf Professionals aus der Süper Lig. Diverse Leader wie Captain Burak Yilmaz vom französischen Überraschungs-Meister Lille reisten in bester Verfassung an das Turnier. Die Rollen sind verteilt, der jeweilige Status ist fixiert. Für Inler ist Günes’ Organigramm um Yilmaz massgebend: «Burak und der Coach kommen aus der gleichen Ortschaft. Sie stehen sich sehr nahe. Der Captain ist der Boss. Was er sagt, wird gemacht.»
Wie gut die türkische Formation unter Druck funktioniert, demonstrierte sie bereits während der EM-Qualifikation mehrfach. Gegen den Weltmeister Frankreich resultierten in zwei Vergleichen vier Punkte. «Ich traue der Mannschaft viel zu», sagte Inler vor dem Turnier. Nun sind die Chancen auf ein Weiterkommen jedoch auf ein Minimum gesunken. Auch mit einem Sieg gegen die Schweiz müsste die Türkei auf schwächere Gruppendritte hoffen, um doch noch in die Achtelfinals vorzustossen.