Albanien, Ungarn, Rumänien, Nordirland. Das sind die Aussenseiter bei dieser EM. Haben wir wen vergessen? Wales vielleicht noch. Eine Nation jedoch ist schon einen Schritt weiter, sie ist vom Fussball-Zwerg zu einem Gegner gewachsen, den niemand mehr unterschätzen wird: Island.
325'000 Menschen leben auf dem Vulkaneiland mitten im Nordatlantik, rund 21'500 davon spielen Fussball. 23 von ihnen sind nun auserwählt, ihr Land zum ersten Mal bei einem grossen Turnier zu vertreten. Mit dabei sind der inzwischen 37 Jahre alte Eidur Gudjohnsen, Augsburgs Alfred Finnbogason und der ehemalige Hoffenheimer Gylfi Sigurdsson.
2014 scheiterte Island noch in den WM-Playoffs an Kroatien, diesmal zweifelte zumindest niemand im Land an der Qualifikation. 3:0 wurde die Türkei am ersten Spieltag weggefegt, auch gegen Tschechien gelang ein Sieg, gegen die Niederlande gewann die Mannschaft sogar beide Partien. Am Ende wurde Island Zweiter, hinter Tschechien und vor den Türken.
Gut gemacht, könnte man sagen. Doch das Sprichwort geht im Isländischen anders: «Harte Arbeit», ruft man sich dort zu, wenn man eine schwierige Aufgabe gemeistert hat. Harte Arbeit, darauf sind auch die isländischen Kicker besonders stolz, mehr noch als auf schöne Spielzüge oder tolle Tore. Teamwork, Laufbereitschaft, Zweikampfstärke, clevere Konter – darauf legt Trainer Lars Lagerbäck Wert. Der 67 Jahre alte Schwede ist stolz auf sein Team, er hat seit seinem Amtsantritt 2011 daran geglaubt, dass es gut genug ist für eine Teilnahme an einer EM oder WM.
Dank zahlreicher neuer Fussballhallen, in denen auch im Winter trainiert werden konnte, waren die Bedingungen schon 2011 nicht mehr ganz so amateurhaft wie noch in den Neunzigerjahren. Lagerbäcks Co-Trainer Heimir Hallgrimsson sagt dennoch über die selbstbewusste Ansage des Chefs: «Damals dachte ich, er ist verrückt.» Am EM-Eröffnungstag wird er 49 Jahre alt – und nach dem Turnier neuer Chefcoach. Lagerbäck war zu der Erkenntnis gekommen, «leider zu früh geboren» worden zu sein.
Hallgrimsson hatte zusammen mit Lagerbäck beim Verband angefangen, er beschrieb das Wesen des isländischen Fussballs im «Guardian» mal so: «Wenn es drauf ankommt, denken wir gar nicht daran, dass wir so ein kleines Land sind. Wir haben nicht so gute Spieler wie unsere Qualifikationsgegner Türkei oder Niederlande. Wir setzen auf harte Arbeit und gute Organisation. In diesen Bereichen müssen wir besser sein als alle anderen.»
Für Hallgrimsson bedeutet der neue Vollzeitjob, dass er seinen alten Beruf vorerst aufgeben muss: Bisher arbeitete er immer noch als Zahnarzt. Denn auch wenn sie im sportlichen Bereich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren stark aufgeholt haben, bietet der isländische Fussball immer noch reichlich aussergewöhnliche Lebensläufe, die man so bei keinem anderen EM-Teilnehmer finden wird.
Etwa den von Torhüter Hannes Thor Halldorsson. Der 32-Jährige ist eigentlich Filmregisseur, drehte viele Werbeclips und auch das Musikvideo für «Greta Salome & Jonsi», die isländischen Teilnehmer am Eurovision Song Contest. Fussball war lange nur ein Hobby von Halldorsson, der vor zehn Jahren noch zwanzig Kilo mehr wog, weil er nach mehreren Verletzungen seine Karriere eigentlich schon aufgegeben hatte.
Dann half er bei der Mannschaft eines Freundes aus, im Trainingslager stellte er sich zwischen die Pfosten, wie Halldorsson mal dem Magazin «11Freunde» erzählte. Sein enormer Ehrgeiz war wieder geweckt, seitdem hat er es zum besten Torhüter des Landes gebracht: In der Qualifikationsgruppe A kassierte sein Team sechs Tore – weniger als alle Gegner.