Die Achtelfinals der WM 2022 haben ihre erste Überraschung. Spanien scheitert an Marokko – trotz über dreimal mehr Ballbesitz (63 zu 20 Prozent) und viermal mehr angekommenen Pässen (975 zu 235). Einmal mehr verzweifelt Spaniens Offensive an einer stabil stehenden Defensive und scheidet im Penaltyschiessen aus. Wie schon an der EM 2021 gegen Italien, oder an der WM vor vier Jahren gegen Gastgeber Russland.
Dementsprechend düster fallen die Reaktionen der spanischen Presse aus. «Spanien ist gestorben wie in Russland» («AS») oder «Spanien stirbt im Penaltyschiessen» (sport.es) heisst es dort zum Beispiel. Gestorben ist die Nation nicht, und auch hat keiner der Spieler ihr Leben am Elfmeterpunkt gelassen – aber zumindest die Nerven. Dermassen schwach präsentierten sich die Schützen der «Furia Roja». Pablo Sarabias Versuch kam nicht mal aufs Tor, Carlos Soler und Sergio Busquets schoben den Ball direkt in die Arme von Marokko-Goalie Bono.
So trauern die Spanier weiter ihrer grossen Zeit hinterher, als sie zwischen 2008 und 2012 nach Belieben dominierten und nicht nur Weltmeister, sondern auch zweimal Europameister wurden. Man könnte natürlich von Pech sprechen, da im Penaltyschiessen immer auch etwas Glück dazugehört. Aber ein Titelkandidat, als der Spanien spätestens nach dem 7:0-Erfolg zum Auftakt gegen Costa Rica galt, müsste das Spiel spätestens nach 120 Minuten entscheiden.
Doch das «Spanien der 1000 Pässe», wie es AS-Journalist Hector Martinez treffend formulierte, verlief sich immer wieder in seinem schönen Spiel und liess den Mut, auch einmal aus einer nicht ganz so aussichtsreichen Position abzuschliessen, zu häufig vermissen. Und das werfen die Spanierinnen und Spanier ihrem Nationalcoach Luis Enrique vor.
Kein Nationalteam klammert sich noch so sehr an das Ballbesitzspiel wie die Spanier. Gegen Costa Rica und Japan waren es über 70 Prozent, gegen Deutschland war Spanien ebenfalls deutlich länger am Ball. Doch während das «Tiki-Taka» vor einigen Jahren noch das grosse Erfolgsrezept der Iberer war, haben sich die Gegner längst darauf eingestellt. Zumal die beiden Spieler, die dieses System bei Barcelona und der Nationalmannschaft perfektioniert haben, nicht mehr zum Nationalteam gehören. Der 20-jährige Pedri und der zwei Jahre jüngere Gavi befinden sich (noch) nicht auf dem Niveau von Xavi und Andres Iniesta, und so scheint dieses Konzept beinahe zum Scheitern verurteilt.
Javier Giraldo schrieb bei sport.es: «Spanien spielte ein Spiel, das mehr theoretisch als praktisch war: Es fehlte der letzte Pass und der Abschluss, der Tempowechsel und der Vorsprung, jene Nuancen, die Spiele entscheiden.» Enrique sah dies etwas anders, wie er nach dem Spiel sagte: «Ich bin traurig, aber stolz. Die Spieler haben meine Ideen vom Fussball perfekt vertreten.» Die Spanier seien dominant aufgetreten und hätten gefährliche Situationen gegen einen defensiv spielenden Gegner kreiert, nur das Tor habe gefehlt. «Natürlich hätten wir auf den letzten Metern effizienter sein müssen, das stimmt. Aber ich bin mehr als zufrieden mit dem, was meine Spieler gezeigt haben», so der 52-Jährige.
Doch es ist nicht nur Enriques System, mit dem die Spanier hadern. In der 63. Minute nahm der Trainer Marco Asensio und Gavi vom Platz. Besonders die Auswechslung des Mittelfeldspielers stiess bei den spanischen Fans auf Unverständnis. «Ich bin immer noch wütend über diesen Wechsel» oder «er war der einzige, der etwas getan hat», hiess es in den sozialen Medien. Und tatsächlich überraschte die Auswechslung des Kreativspielers, zumal Enrique nach dem ersten Gruppenspiel noch in höchsten Tönen über Gavi sprach.
Ob es die richtige Taktik ist, alle Hoffnung in einen 18-Jährigen zu setzen, sei dahingestellt, in jedem Fall legt es aber ein weiteres Problem dieser Spanier offen. Die Leistungsträger beim letzten Titel-Gewinn haben ihre Karrieren entweder bereits beendet oder sind weit über ihren Zenit hinaus. Und trotzdem gehören mit Sergio Busquets und Jordi Alba zwei Spieler aus dem Europameister-Team von 2012 noch immer zum festen Stamm. Weil es auf ihren Positionen an Konkurrenz fehlt. Nur wenige spanische Spieler schafften in den letzten Jahren den Sprung vom Talent zum grossen Star. Und die neuen Stars sind noch zu jung und unerfahren, um ein Team an einem grossen Turnier anzuführen.
Ob Enrique beim nächsten grossen Turnier weiterhin an der Seitenlinie des spanischen Nationalteams stehen wird, liess er nach dem Aus gegen Marokko noch offen. «Ich brauche Ruhe und muss darüber nachdenken, was das Beste für mich und die Mannschaft ist», sagte der 52-Jährige. Zudem nahm er die Schuld für das Ausscheiden auf sich: «Wenn dafür jemand verantwortlich ist, dann bin ich es».
Immerhin sind Gavi, Pedri und Co. bis zur EM 2024 in Deutschland alle rund anderthalb Jahre älter. Bis dahin muss sich Spanien aber gedulden. Oder wie Giraldo schreibt: «Der Traum muss noch warten.»