Man weiss gar nicht, wo man beginnen soll nach diesem so glorreichen wie erfolgreichen Abnützungskampf gegen Trabzonspor. Bei der mutigen, starken ersten Halbzeit des FC St.Gallen? Beim Lehrbuch-Tor von Isaac Schmidt, seinem wohl letzten im Dress des FC St. Gallen? Bei den schwülwarmen Temperaturen, die nicht nur die Ostschweizer im Papara Park leiden liessen? Beim entscheidenden No-Look-Penalty von Stephan Ambrosius? Bei der Musik, zu der getanzt wurde, in der Kabine des FC St. Gallen?
Wenn man wie die Ostschweizer Geschichte schreibt, ist es einfach. Es interessiert alles. Zigis zahlreiche Glanztaten genauso wie sein Tanz mit den Mitspielern in der Garderobe. Oder in welch freudiger Stimmung die St. Galler im Bus zum Hotel aufbrachen, vielleicht auch auf der Suche nach einem Bier. Denn Alkohol gibt es hier im Nordosten der Türkei nur selten zu finden. Oder dann Präsident Matthias Hüppi, der, wie soll man sagen: vielleicht gerade der stolzeste Mensch auf Erden war.
Und doch, auch das soll gesagt sein: Euphorisch, gar überschwänglich verhielten sich die St. Galler keineswegs nach dem Schlusspfiff. Vielmehr löste der Schritt in die Ligaphase schlicht eine tiefe Befriedigung aus und war ein Geniessen.
Wie Minuten davor Enrico Maassen an der Pressekonferenz so dagesessen hatte im Bauch des Papara Parks, da spürte man: Der Trainer ist einfach zufrieden, man glaubt schon eine Verschmelzung mit den Grünweissen zu sehen. Dann sagte er:
Seine Mannschaft war in der ersten Halbzeit mutig, hatte die vorgefundenen Räume hervorragend bespielt. Und wenn es einmal nicht nach vorne ging, dann hielt sie den Ball gefällig in den eigenen Reihen. Ja, St. Gallen hatte dominiert, das sah auch Maassen so. Dass die Türken dem Ball so oft hinterherlaufen mussten, war gewiss nicht ihr Ding.
Natürlich spielte der Ausgleich dann dem Heimteam in die Karten. Er fiel in jener Phase, in der die Gäste den Faden etwas verloren. «Da war das Stadion dann voll da», sagte Maassen. Aber, und das ist der FC St. Gallen seit Sommer 2024: Er brach danach nicht zusammen, einzig bei den Standards blieben die Probleme. Dieses Nichtzusammenfallen ist eine Qualität, die es früher nicht immer gegeben hatte, vor allem nicht in sogenannten Finalspielen. Wie oft überspannten da die St. Galler, wie oft verbrannten sie!
Und dann kam es zum Elfmeterschiessen. «Eine andere Sportart ist das», wie Maassen befand. Und bei diesem Schlusspunkt war Stephan Ambrosius der entscheidende Faktor. Die Mannschaftskollegen hatten stets getroffen, und nach Savics Fehlschuss im fünften Versuch behielt Ambrosius die Nerven und traf zum Sieg. Indem er bei seinem Penalty nicht einmal schaute, wohin der Ball gehen wird. No Look!
Der Siegschütze sagte: «Ich komme von der zweiten Bundesliga, da war Europa noch weit entfernt. Wir sind eine richtige Einheit, das habe ich schon bei meiner Ankunft gemerkt. Und dann bin [ich] ganz gelassen in meinen letzten Schuss reingegangen.» Mit Lockerheit also – einer Attitüde, die St. Gallen künftig unter Maassen begleitet und neuerdings auch auszeichnet. Gerade in Trabzon hatte St. Gallen ja nichts zu verlieren, es blieb ein Dürfen.
Maassen sagte weiter: «Wir haben heute unseren ersten Final in dieser Saison gewonnen.» St. Gallen habe für den Moment das Maximum erreicht und wolle hochgradig ambitioniert bleiben, in jedem Wettbewerb.
Wenn einer gerne im Moment lebt, dann trifft das besonders auf Lukas Görtler zu. Der Captain war futsch, ausgepumpt. Und trotzdem spassig drauf. «Unglaublich, das kleine St. Gallen gewinnt hier. Geil! Alle haben uns als Aussenseiter gesehen. Am Schluss waren wir körperlich sogar stärker.» In St. Gallen wünsche sich ja jeder einen Titel, das sei jetzt zwar keiner, «aber es fühlt sich an, wie wenn wir einen Final gewonnen hätten. Cool, das kleine St. Gallen ist in Europa!»
Bereits in der Verlängerung hatte St. Gallen die Kontrolle über das Spiel wiedergewonnen. Suchte eher die Entscheidung als das Heimteam, doch es blieb dramatisch. Görtler schilderte schliesslich gleich selbst den entscheidenden Schlusspunkt. Und was in der Nacht noch kommen möge: «Es hat keiner erwartet, dass wir uns durchsetzen. Alle waren gut. Stephan ist immer einer der Besten. Ich habe noch vor dem letzten Schuss gesagt, ich sei sehr stolz auf ihn und seine Leistung, er brauche keine Angst zu haben, solle die Eier in die Hand nehmen und einfach schiessen. Wenn wir das jetzt nicht feiern, dann haben wir das Leben nicht verstanden.»
Trabzonspor hat eine grosse Historie, gewiss. Doch von der war nicht so viel zu sehen in diesem Playoff-Rückspiel. Auch weil die St. Galler mit allem kämpften, was sie hatten. Chadrac Akolo war in der Halbzeit körperlich am Ende, Görtler, Chima Okoroji oder Schmidt waren es mit Fortdauer der Partie. Mihailo Stevanovic verletzte sich gar an der Schulter und dürfte länger ausfallen. Als es bei ihm auf dem Rasen nicht mehr weiterging, sah man regelrecht seine tiefe Trauer.
So blieb es bis zum Schluss intensiv, am Ende entschieden auch der Wille und die Moral. St. Gallen wollte diese Ligaphase unbedingt. Und behielt die Ruhe. Maassen sagte zum Schluss: «Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Kurze Party, und dann geht’s weiter.» So soll es sein, weil solche Dinge wichtig sind für eine Mannschaft, die gerade zur verschworenen Einheit wird und nun ein erstes Mal über sich hinausgewachsen ist.
Einen Wermutstropfen neben der Verletzung von Stevanovic gibt es noch. Es dürfte Isaac Schmidts letztes Spiel für den FCSG gewesen sein, ausgerechnet mit einem Tor bricht er seine Zelte nach drei Jahren und 108 Auftritten (mit sieben Treffern) ab. Die Mitspieler liessen den Rechtsverteidiger nach dem Schlusspfiff noch einmal hochleben, schon heute dürfte sein Transfer zu Leeds offiziell werden. Der Romand wird eine Lücke in der Mannschaft hinterlassen, doch mit Konrad Faber steht sein Nachfolger bereit.
Und während die Tage von Trabzonspor-Trainer Abdullah Avci gezählt sein dürften nach diesem neuerlichen Nackenschlag für den Verein, dachten die St. Galler bereits an die europäische Luft, die sie atmen. Und daran, wo sie diese atmen wollen. Der Name Chelsea fiel oft.
Das Spiel hat meinem grün/weissen Herzen zwar alles abverlangt, aber am Ende: Erleichterung und Freude pur. In der Stadt lag und liegt Euphorie in der Luft, wir haben das Gefühl, dass alles möglich ist. Es ist eine gute Zeit als St.Gallen Fan und wir hatten weiss Gott was für schlechte davon.