In Deutschland ist Bayern München zurück an der Spitze, in England hat Liverpool das Rennen gemacht, in Frankreich steht Paris Saint-Germain schon länger als Meister fest und seit dem Sieg des FC Barcelona am Donnerstag ist der Titel auch in Spanien vergeben. Somit ist die Serie A die einzige Topliga, in der das Meisterrennen noch offen ist. Und dramatischer könnte dieses kaum sein.
Zwei Runden vor Schluss trennt die SSC Napoli und Inter Mailand nur ein Punkt. Leader Napoli trifft noch auswärts auf Parma und zu Hause auf Cagliari, für Yann Sommers Inter geht es im heimischen San Siro gegen Lazio, bevor es auswärts auf Como trifft. In den letzten beiden Runden finden die Spiele jeweils parallel statt, erst an diesem Sonntagabend (20.45 Uhr), dann am nächsten Sonntag, den 25. Mai (15 Uhr).
Napoli darf sich dabei keinen Ausrutscher erlauben. Lassen die Süditaliener Punkte liegen, sind sie darauf angewiesen, dass auch Inter Mailand patzt. Beenden die beiden Konkurrenten die Saison punktgleich, kommt es zu einem Entscheidungsspiel an einem neutralen Ort – eine spektakuläre Eigenheit der Serie A.
Dass die Società Sportiva Calcio überhaupt um den Titel spielt, ist in den Augen ihres Trainers eine grosse Überraschung. «Der ‹Scudetto› wäre ein Wunder», sagte Antonio Conte gegenüber Sky, nachdem Napoli vor drei Wochen die Tabellenführung übernommen hatte. Schon die sichere Teilnahme an der Champions League sei «etwas Schönes, wenn man bedenkt, wo wir angefangen haben», so der 55-jährige Italiener.
Damit spricht Conte, der den Napoli-Job vor dieser Saison angetreten hat, mehrere Umstände an. Einerseits beendete der Meister der Saison 2022/23 die letzte Saison nur auf Platz 10. Der Rückstand auf Meister Inter betrug am Ende 41 Punkte. Andererseits musste der Klub dann auch noch Victor Osimhen (per Leihe zu Galatasaray) und im Winter Chwitscha Kwarazchelia (für 70 Mio. Euro zu PSG) ziehen lassen. Und damit die grossen Helden der Meistersaison.
Ersetzt wurden sie durch Romelo Lukaku, der mit 13 Toren und 10 Assists Topskorer bei Napoli ist, und den Schweizer Noah Okafor, der seit seiner Ankunft im Winter auf ganze 36 Minuten Einsatzzeit kommt. Der Marktwert Napolis ist mit rund 356 Millionen Euro nur gut halb so gross wie jener von Inter Mailand (664 Mio. Euro).
Dass Napoli dennoch so weit vorne mitmischt, liegt zum einen sicher an Trainer Conte. Der Italiener brachte dem Team mit seinem gewohnt defensiven Spielstil sofort Stabilität. Mit nur 27 Gegentoren hat die SSC Napoli die beste Verteidigung der Liga. Die Offensive war mit 57 Toren hingegen eher harmlos. Führt Conte den Klub tatsächlich zum Titel, wäre es bereits sein fünfter «Scudetto», womit er in der Liste der erfolgreichsten Trainer der Serie A mit Fabio Capello und Marcello Lippi gleichziehen und nur noch von Giovanni Trapattoni (7) sowie Massimiliano Allegri (6) übertroffen würde.
Zum anderen schlug neben Lukaku (für 30 Mio. Euro von Chelsea) eine weitere Neuverpflichtung voll ein. Scott McTominay, der für 30,5 Mio. Euro von Manchester United kam, wurde in Neapel sofort heimisch. Der Schotte erfüllte im Zentrum gemeinsam mit Frank Anguissa den offensiven Part vor Mittelfeld-Motor Stanislav Lobotka und kam auf elf Treffer sowie sechs Assists.
Der 28-Jährige wird von den passionierten Fans in Neapel bereits verehrt, seine Spitznamen sind unter anderem McTerminator oder McFratm – «Fratm» ist neapolitanischer Slang für «mein Bruder». Für McTominay selbst waren die Fans einer der Gründe für den Wechsel nach Italien. Wenig später war für ihn klar: «Ich liebe diesen Ort, diese Fans, und meine Teamkollegen.» Dass er bereits im September das Logo küsste und zudem nicht nur Italienisch, sondern auch Neapolitanisch lernt, kam in der Stadt in Kampanien selbstredend ebenfalls hervorragend an.
Zwei Siege sind McTominay und Napoli nun noch von der vierten Meisterschaft der Vereinsgeschichte entfernt. Leisten sich «Gli Azzurri» doch noch einen Ausrutscher, will Inter Mailand bereit sein. Noch vor wenigen Wochen waren die «Nerazzurri» im Titelrennen im Vorteil. Dann folgten aber die 0:1-Niederlagen gegen Bologna und die AS Roma – erstere gar erst durch ein Gegentor in der 94. Minute. So musste Inter den Konkurrenten vier Runden vor Schluss vorbeiziehen lassen. Weil Napoli sich in der letzten Woche beim 2:2-Unentschieden gegen Genoa selbst noch ein Bein stellte, beträgt der Rückstand nur noch einen Zähler.
Weshalb das Team von Trainer Simone Inzaghi letztes Jahr deutlich Meister wurde und auch in dieser Saison auf dem Weg zum Titel war, sah die Fussballwelt in den sensationellen Halbfinals der Champions League gegen Barcelona. Da setzte sich Inter Mailand mit einem Gesamtskore von 7:6 durch. In der Serie A ist der 20-fache Meister aber deutlich aktiver und hat den Ball naturgemäss häufiger in den eigenen Reihen. Trotzdem setzt er auf ein schnelles Umschaltspiel sowie die Torgefahr der Aussenverteidiger. Mit 75 Toren stellt Inter die beste Offensive der Liga.
Dass Inter das Spiel so hervorragend kontrollieren kann, liegt auch an Goalie Yann Sommer. Der 36-jährige Schweizer hilft seinem Team nämlich nicht nur mit grandiosen Paraden wie gegen Barça, sondern auch mit seinen Füssen. Lucien Favre, sein Ex-Trainer bei Mönchengladbach, bezeichnete ihn kürzlich in der Gazzetta dello Sport gar als Spielmacher: «Sommer ist Inters Nummer 10. Er wurde schon immer unterschätzt.» Tatsächlich brachten nur sechs Feldspieler bei Inter mehr Pässe an den Mitspieler als der Goalie.
In den nächsten Wochen ist das Highlight für Inter Mailand selbstverständlich der Champions-League-Final vom 31. Mai gegen Paris Saint-Germain. Dann könnten sich Yann Sommer und Co. ein Denkmal setzen. Zuvor geht es aber noch um die Titelverteidigung in der heimischen Liga.