Noch drei Plätze sind offen für die erste Fussball-WM zur Adventszeit. Einer davon ist für ein europäisches Team reserviert. Am Sonntagabend wird das Ticket vergeben: Wales trifft dann auf den Sieger des Halbfinals zwischen Schottland und der Ukraine.
Diese Partie hätte eigentlich wie die anderen Playoff-Partien im März stattfinden sollen, sie wurde jedoch wegen des Kriegs in der Ukraine in den Sommer verschoben. Nun wird am Mittwochabend (20.45 Uhr) im Hampden Park in Glasgow gespielt.
«Die Moral der Spieler ist hervorragend», betonte Nationaltrainer Oleksandr Petrakov am Montag. Er werde gar nicht viele Worte an sie wenden müssen. «Das sind erfahrene Fussballer, die wissen, worum es geht.»
Allerdings fehlt vielen von ihnen die Wettkampfpraxis. Diejenigen Nationalspieler, die in der Heimat engagiert sind, haben nun monatelang keine Ernstkämpfe bestritten, weil keine Meisterschaft stattfindet. Betroffen ist mehr als ein Dutzend Spieler im Aufgebot, primär von den beiden ukrainischen Topklubs Dynamo Kiew und Schachtar Donezk.
Spielen durfte Oleksandr Zinchenko, zuletzt war der Linksverteidiger bei Manchester City gesetzt, er wurde englischer Meister. Nun sagt der 25-Jährige über die Schottland-Partie:
Während Zinchenko um den Titel spielte, tingelte Dynamo Kiew durch Europa und absolvierte Testspiele, Anfang Mai auch eines gegen den FC Basel. Mit Ausnahme von Borussia Dortmund war jedoch kein Topteam unter den Gegnern, was Dynamo-Trainer Mircea Lucescu ärgerte.
«Wir hatten erwartet, dass die bedeutenden Klubs in Europa sich offener zeigen würden», sagte er zu «11 Freunde». Sie hätten «mit allen» gesprochen. Aber die Grossklubs hätten abgelehnt und auf den eng getakteten Spielplan verwiesen. «Dabei spielten die meisten dieser Vereine nicht mehr europäisch. Sie hätten also einen Termin unter der Woche finden können», meinte Lucescu.
Der alte Trainerfuchs half seinen Spielern und deren Familien bei der Flucht und bat Funktionäre, sich für die Fussballer einzusetzen. «Wir waren der Meinung, dass diese Männer durch den internationalen Sport mehr für ihr Land tun können, als wenn sie in der Ukraine bleiben und sich grossen Gefahren aussetzen.» Der 76-jährige Lucescu liess seine Kontakte spielen und organisierte, dass Dynamo Kiew im Sportzentrum der rumänischen Stadt Snagov trainieren konnte.
Auch Schachtar Donezk hielt sich in einem langen Trainingslager fit. «Das ist zwar langsam ein wenig ermüdend», gab Schachtar-Goalie Andriy Pyatov zu, «aber jeder kennt das grosse Ziel, das wir haben.»
Das Nationalteam bereitete sich zuletzt während eines Monats in Slowenien auf die WM-Playoffs vor. Verteidiger Eduard Sobol rückte mit viel Zuversicht aus Belgien ein, wo er mit Brügge Meister wurde. «Die Feier war gut, aber nun drehen sich alle Gedanken um die Nationalmannschaft», sagte er. «Die Schotten sind ein guter Gegner. Ich erwarte ein schwieriges Spiel, aber wir können sie schlagen. Unsere Jungs haben sich lange auf diese Partie vorbereitet, wir sind zuversichtlich und gut in Form.»
Sobol dachte dabei nicht nur an die körperliche Verfassung. Auch mental sei das Team bereit, um dem Land etwas geben zu können. «Wir sind durch den Kampf unserer Soldaten für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine sehr motiviert. Ich möchte den Menschen eine Freude machen», kündigte der 27-Jährige an. «Deshalb werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den Menschen in der Ukraine ein gutes Gefühl vermitteln zu können.»
Torhüter Pyatov sprach gleichzeitig von der Schwierigkeit, sich vollends auf das Fussballspiel zu konzentrieren. «Wir müssen alle anderen Gedanken ausblenden können», sagte er. Nun während der Vorbereitungszeit hätten sie sich selbstverständlich mit der aktuellen Lage in der Ukraine beschäftigt. Jeder Tag sei anders. «Manchmal verläuft er ganz normal, ein anderes Mal ist man hingegen in Sorge, weil ständig Raketen fliegen und Gefahr droht. Ich hoffe, dass alles gut geht und wir zuversichtlich ins Spiel gegen Schottland gehen können.»
Captain Andriy Yarmolenko war bis vor einer Woche bei West Ham engagiert, nun ist sein Vertrag ausgelaufen. Mit dem Kopf sei er schon lange beim Nationalteam gewesen, verriet der ehemalige BVB-Stürmer. «Um ehrlich zu sein, konnte ich das Saisonende kaum erwarten, ich wollte endlich wieder meine ukrainischen Kollegen sehen. Ich habe zwar dauernd mit ihnen telefoniert, aber das ist halt doch nicht das gleiche.»
An den ständigen Druck seien sich die Spieler gewöhnt, meinte Yarmolenko, auf die besondere Ausgangslage angesprochen. «Ich kann nicht garantieren, dass wir es an die WM schaffen. Aber ich verspreche, dass wir alles dafür geben werden.» Der Gedanke daran, den Leuten in der Heimat mit einer Qualifikation eine Freude bereiten zu können, sei inspirierend und verleihe Kraft. «Man geht im Wissen auf den Platz, nicht nur für sich selbst zu spielen, sondern für alle Ukrainer, für unsere Fans und für die Soldaten, die uns und unsere Familien beschützen.»
Ein besonderes Spiel ist diese Playoff-Partie aber nicht nur für die Ukrainer, sondern auch für ihre Gegner. Einerseits wegen der Aussicht auf die erste WM-Teilnahme Schottlands seit 1998, andererseits weil die Geschehnisse in der Ukraine niemanden kalt lassen. Jack Hendry etwa ist Verteidiger in Brügge und spielt dort Seite an Seite mit Eduard Sobol.
Er habe dank seinem ukrainischen Mitspieler einen ganz anderen Zugang zum Krieg, sagte Hendry bei «Sky Sports». Er habe miterlebt, wie sehr es Sobol und seine Familie mitgenommen habe. «Ich habe ihn in dieser schwierigen Zeit unterstützt. Aber ich werde ihm kein Glück für unser Spiel wünschen. Ich weiss, wie viel es ihm bedeutet und wie sehr die Ukrainer auf dieses Spiel brennen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass wir dem in nichts nachstehen werden, wenn nicht noch mehr», verkündete Hendry.
Einen prominenten Landsmann hat der Abwehrspieler nicht auf seiner Seite: Graeme Souness. Die mittlerweile 69-jährige Ikone des FC Liverpool lief 54 Mal für Schottland auf, doch nun drückt Souness tatsächlich der Ukraine die Daumen. «Ich will nicht nur, dass sich die Ukraine qualifiziert. Ich will, dass sie nach Katar gehen und das Turnier gewinnen», sagte er in der «Times». «Wenn ich darüber nachdenke, dann denke ich, dass es Wichtigeres als Fussball gibt: Russland eine Botschaft zu senden, dass so ein Verhalten inakzeptabel ist.»
Gibt halt keine Einnahmen für die Topklubs, dann sind sie auch nicht interessiert.