Derby-Wahnsinn in Mailand! Trotz eines 0:2-Rückstands zur Pause gewann Inter gegen den verhassten Stadtrivalen AC Milan noch mit 4:2. Den «Rossoneri» nützten im 223. Duell auch eine starke erste Halbzeit und zwei Skorerpunkte von Zlatan Ibrahimovic (1 Tor/1 Assist) nichts. Nach der Pause wurde Milan zunächst kalt erwischt und in der Folge von Inter gnadenlos ausgespielt.
«Es ist schwierig zu erklären, was da passiert ist. Wir haben aufgehört zu spielen, das Team hat nicht mehr an sich geglaubt. Nach dem Ausgleich ist alles zusammengebrochen», erklärte Ibrahimovic nach der ersten Niederlage in diesem Jahr sichtlich enttäuscht bei «Sky Sport Italia».
Inter dagegen darf frohlocken: Dank dem vierten Derbysieg in Folge und dem 16. Liga-Spiel ohne Niederlage hintereinander nutzten die «Nerazzurri» den Ausrutscher von Juventus Turin (1:2 bei Hellas Verona) aus und sorgen im Titelrennen für so viel Spannung wie seit Jahren nicht mehr. Dank des besseren Torverhältnisses liegt Inter punktgleich mit Serienmeister Juve an der Spitze, einen Punkt dahinter folgt dank Toptorjäger Ciro Immobile (25 Treffer in 23 Spielen) bereits Lazio Rom.
«Es war eine besondere Nacht», freute sich Inter-Trainer Antonio Conte. Vom ersten Meistertitel seit 2010 will der 50-Jährige aber noch nichts wissen. «Scudetto? Es ist noch viel zu früh, um darüber zu sprechen. Momentan können wir höchstens davon träumen.»
Dass Inter nach schwierigen Jahren voller Rückschläge mit zahlreichen Trainer- und Besitzerwechseln sowie chaotischem Transfergebaren überhaupt wieder vom Meistertitel träumen darf, hat viel mit Conte und einem weiteren «Überläufer» von Juventus Turin zu tun. Nach seinem Rausschmiss bei Chelsea im Sommer 2018 und einem einjährigen Sabbatical folgte Conte im Juli dem Ruf des neuen Inter-Geschäftsführer Giuseppe Marotta, der wie Conte ebenfalls lange für Juve tätig war. Mit der Verpflichtung von Conte holte Marotta das wohl entscheidende Puzzlestück.
Mit eiserner Hand und dank finanziellem Zustupf der chinesischen Besitzer formte der Disziplinfanatiker innert kürzester Zeit eine schlagfertige Truppe. Wer sich nicht bedingungslos dem Teamgedanken unterwarf, hatte keinen Platz mehr bei Inter. Der Reihe nach wurden die ehemaligen Leistungsträger Radja Nainggolan, Mauro Icardi und Ivan Perisic aussortiert, dafür holte Conte mit Romelu Lukaku, Diego Godin sowie Alexis Sanchez äusserst erfahrene Kräfte und mit Nicolo Barella sowie Stefano Sensi zwei junge talentierte Spielmacher.
Mit seiner Energie, seiner Leidenschaft und seinem Willen steckte Conte sofort alle an. «Wer keinen Willen hat, der spielt bei mir nicht, selbst wenn er das letzte Mal der Beste auf dem Platz war», erklärte er im Sommer. Sein Ex-Spieler Andrea Pirlo sagte neulich über den Vulkan an der Seitenlinie: «Conte zwingt dich, immer dein Bestes zu geben, mehr als du gedacht hast. Er ist besessen vom Sieg, und wenn er verliert, wird er zum Dämon. Dann darfst du nicht mit ihm sprechen.»
Conte wurde auch bei Inter immer wieder zum Dämon, denn Inters Aufstieg erfolgte nicht ohne Rückschläge. Nach einem starken Saisonstart folgte bald die erste Minikrise, die im Aus in der Champions League gipfelte. Es dauerte ein Weilchen, bis die Mannschaft Contes über alles geliebte 3-5-2-System verinnerlicht hatte. Doch mittlerweile greifen die Zahnrädchen immer besser ineinander, vor allem Lukaku füllt seine Rolle als Zielspieler in der Spitze und Vorbereiter für den torgefährlichen Lautaro Martinez immer besser aus.
Mit Christian Eriksen hat Conte im Winter zudem einen weiteren Wunschspieler aus der Premier League gekriegt. Nach drei Unentschieden in Serie im Januar kam die Angst auf, dass die Gegner sich bereits auf den schematischen, taktisch eindimensionalen Conte-Fussball eingestellt hätten. Der Däne soll der Offensive nun noch etwas mehr Kreativität und Überraschungsmomente verleihen. Mit Ashley Young und Victor Moses wurden Contes Kader zwei weitere Mosaiksteine hinzugefügt.
Das breite Kader ist für Contes Spielsystem, in dem immer alle Vollgas geben müssen, enorm wichtig. Der «Corriere dello Sport» charakterisierte den Vizeweltmeister von 1994 zuletzt als Trainer, der ähnlich wie José Mourinho den allerletzten Tropfen aus seinen Spielern pressen und sie damit auf ein höheres Niveau führen kann, der aber auch Stress produziert und alle ausgelaugt zurücklässt. Deshalb war Conte wie auch Mourinho meist nur ein Heilsbringer für ein, zwei Jahre.
Conte ist das momentan herzlich egal. Mit Inter will er endlich die achtjährige Juve-Herrschaft durchbrechen und den Scudetto zurück nach Mailand holen. Der ehemalige Conte-Schüler Pirlo traut Inter das durchaus zu: «Sie werden bis zum Schluss um den Titel kämpfen», glaubt er, gibt aber zu bedenken: «Juventus bleibt der grosse Favorit, weil es die höhere Qualität bei den Spielern hat.» Conte bleibt also gar nichts anderes übrig, als das zu tun, was er am besten kann: Sein Kader bis zum Schluss komplett auszulaugen.
Also Conte hat den Grundsteine für alle Meisterschaften von Juve gelegt. Allegri hat eine einwandfrei funktionierende Mannschaft übernommen und konnte immer wieder auf Contes einstudiertes 3-5-2 zurückgreifen, während er die Viererkette einübte. Bei Chelsea hatte Conte einfach Probleme neben dem Platz mit gewissen Spielern (u.a. D. Costa), was Unruhe brachte und weshalb er dann auch keinen Erfolg mehr hatte.